Organisationskultur

Autor: Stefan Opitz

Wie im vorherigen Kapitel dargestellt, können Organisationen aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln und folglich mit sehr unterschiedlichen Theorieansätzen beschrieben werden. Allen diesen Ansätzen ist jedoch gemein, dass Organisationen als regelgebundene Systeme betrachtet werden. Die Organisationsmitglieder verfolgen in ihnen arbeitsteilig einen gemeinsamen Zweck, den jeweiligen Organisationsauftrag bzw. die Organisationsziele. Dazu bildet die Organisation Strukturen (Aufbauorganisation) und Prozessabläufe (Ablauforganisation) heraus. Dort, wo die von der Organisation vorgegebenen Strukturen und Abläufe die Komplexität des Geschehens nicht hinreichend regeln können – oder in einigen Organisationsmodellen auch nicht sollen – kommt die Dimension der Selbstorganisation der Organisationsmitglieder, auch als informelle Organisation bezeichnet, hinzu. Die Selbstorganisation hat hierbei die Aufgabe, das „Klein-Klein“ des Organisationsgeschehens aufgaben-, funktions- und rollenkonform zu bewältigen.

Die Organisationsdimensionen Strukturen, Abläufe und Selbstorganisation werden durch eine weitere Dimension miteinander verbunden. Innerhalb dieser Dimension erfolgen Verständigungen zwischen den Organisationsmitgliedern darüber, wie bestimmte Aufgaben oder Teilaufgaben der Organisation wahrgenommen werden, wie sie ausgeführt werden können, dass es den Vorstellungen der Aufgabenwahrnehmung dieser Organisation entspricht. Diese Verständigungen basieren nicht immer nur auf expliziten, allgemein zugänglichen und dadurch nachvollziehbaren Wissensbeständen. Sie beinhalten oftmals einen Kanon aus Werten, unausgesprochenen Grundannahmen und darauf basierenden impliziten Vorstellungen darüber, was sich bewährt hat und wie die Dinge folglich erledigt werden sollten. Insbesondere neu in die Organisation eingetretene Mitglieder nehmen diese kleinen Unterschiede, Differenzen und Interna besonders wahr, solange sie noch keine Insider sind. Neue Organisationsmitglieder werden in die ‚Geheimnisse‘ und das Insiderwissen der bewährten Vorgehensweisen eingeführt. Derartige Grundprämissen entfalten zugleich eine hohe Bindungskraft und schaffen ein Zugehörigkeitsgefühl. Die Aspekte dieser Dimension werden als Organisationskultur beschrieben. Die Kenntnis und das Verständnis der Organisationskultur versetzen die Organisationsmitglieder in die Lage, Aufträge und Ziele ihres Organisationshandelns besser realisieren zu können.

Die Dimension der Organisationskultur weist offensichtlich eine hohe Schnittmenge mit dem Thema dieser Veröffentlichung auf, ist sie doch aus demselben Stoff der Grundannahmen, Werte, Aktionstheorien, Vorgehensweisen und Erwartungen gewirkt, die zugleich auch Bestandteil der professionellen Haltungen der Fach- und Leitungskräfte in den Jugendamtsorganisationen sind. Das Thema der professionellen Haltung(en) ist ein prägender Bestandteil der Organisationskultur(en) von Jugendämtern.

Funktion und Wirkung von Organisationskultur

Henry Mintzberg sieht in der historisch gewachsenen Kultur einer Organisation so etwas wie ein „Bindegewebe“ zur Verknüpfung der Elemente in Aufbau- und Ablauforganisation, die im Zuge der Arbeitsteilung getrennt wurden. Die Organisationskultur kann dabei einen verbindenden Rahmen für die betriebliche Organisation schaffen, in dem informelle Abläufe mögliche Mängel der formellen Struktur ausgleichen können.[1]

Eine so verstandene Organisationskultur wirkt also auf alle Elemente des Organisationshandelns (Führung, Beziehungen zwischen Kollegen, Entscheidungsfindung und Kommunikation, Adressat*innen und Kooperationspartner usw.). Jede Aktivität in einer Organisation ist folglich auf Basis ihrer Kultur entstanden und dadurch kulturell beeinflusst.

Edgar H. Schein beschreibt die Organisationskultur als Ergebnis sozialen Lernens: „Kultur besteht aus den gemeinsamen unausgesprochenen Annahmen, die eine Gruppe bei der Bewältigung externer Aufgaben und beim Umgang mit internen Beziehungen erlernt hat. Kultur manifestiert sich zwar in offenem Verhalten, in Ritualen, Artefakten, Atmosphäre und propagierten Werten, aber ihre Essenz sind die gemeinsamen unausgesprochenen Annahmen. Als verantwortlicher Leiter müssen Sie sich dieser Annahmen bewusst sein und sie steuern, andernfalls werden Sie von ihnen gesteuert.“[2]

Organisationskultur als Thema von Führung und Leitung

Organisationskultur wird unter diesem Aspekt zu einem Thema für Führung und Leitung. Aufgabe von Führung und Leitung ist es, dem Handeln der Organisationsmitglieder einen Rahmen und eine Richtung zu geben, die entstehenden Dynamiken immer wieder so zu reflektieren und zu beeinflussen, dass sie in Rahmen und Richtung des Organisationsauftrages und der (sich weiterentwickelnden) Qualitätsziele passen.

Wenn das Handeln der Organisationsmitglieder durch die in der Organisation bestehende Kultur geprägt und gebunden ist, lässt sich die Aufgabe der Gestaltung der Organisationskultur über die Initiierung eines permanenten Reflexionsprozesses konkretisieren. Dieser Reflexionsprozess ermöglicht eine Einordnung, welche Bestandteile der Organisationskultur sich funktional
oder dysfunktional zum Organisationsauftrag und seinen Zielen verhalten. Für die Wahrnehmung – im Wortsinn – dieser Aufgabe ist es deshalb zentral, zunächst ein Bewusstsein für die Wirkmacht der Dimension der Organisationskultur zu entwickeln. Aus diesem Bewusstsein heraus können Führungs- und Leitungskräfte einen (Standard-)Prozess entwickeln, der es ermöglicht, die Dimension Organisationskultur anhand von Ereignissen und Dynamiken des Organisationsalltages zu reflektieren und mittels geeigneter Interventionen steuernd zu gestalten.

Erkennen und Beschreiben der Organisationskultur

Edgar H. Schein weist darauf hin, dass Kultur als ein Gruppenphänomen zu betrachten ist. Sie ist das Ergebnis der persönlichen Lerngeschichte eines Teams oder einer Organisation und besteht aus gemeinsamen unausgesprochenen Annahmen und Erwartungen. Die am besten geeignete Erhebungsmethode ist für Schein deshalb eine strukturierte Form der Kommunikation in dementsprechend zusammengesetzten Gruppen[3] – in der qualitativen Sozialforschung auch als Fokusgruppen bezeichnet. Schein empfiehlt ein Vorgehen, bei dem die Entzifferung der eigenen Organisationskultur Teilaspekt eines übergeordneten Veränderungsthemas sein sollte, da es dadurch einen konkreten Bezugsrahmen erhält.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Verfahren anzuwenden, die eine distanzierte Betrachtung der eigenen Organisationskultur als Reflexionsfolie ermöglichen. Die Vergleichsringarbeit der IBN vermag dieses in Ansätzen zu leisten. Weitere Methoden wie die Kollegiale Visitation oder Kollegiale Rotation ermöglichen das zeitweise Eintauchen in andere Organisationskulturen. Durch den Vergleich der eigenen mit der fremden Kultur der besuchten Organisation werden die eigenen Annahmen, Werthaltungen und Selbstverständlichkeiten bewusster und deutlicher. Erfahrungsberichte zur kollegialen Visitation wurden 2001 durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend veröffentlicht, erste Erfahrungen zur kollegialen Rotation konnten in den Nullerjahren durch zwei Modellkommunen in Westfalen-Lippe gesammelt werden[4].

Kultureller Wandel: Veränderung und Steuerung von Organisationkultur

Schon so manche Organisationsentwicklung ist in der Umsetzung daran gescheitert, dass die Dimension der Organisationskultur unbeachtet blieb. Erarbeitete Ergebnisse konnten nicht von der Projekt- in die Regelpraxis transferiert werden oder es wurde nach einer gewissen Zeitspanne wieder zur althergebrachten Praxis zurückgekehrt.

Die Veränderung von Organisationskultur kann nicht als Selbstzeck betrieben werden. Sie ist immer ein Teilaspekt von unterschiedlichsten Veränderungsanlässen und -themen. Kulturveränderungen empfehlen sich dort, wo sie sich dysfunktional zum Organisationsauftrag bzw. den Organisationszielen verhalten. Wo sich die Kultur funktional unterstützend gestaltet, erübrigen sich verändernde Eingriffe, sie können sogar schaden. Funktionale Kulturelemente lassen sich vielmehr als Stärken und Ressourcen in Veränderungsprozesse einbeziehen.

Wie bei jeder anderen Organisationsveränderung schafft eine ungewisse Zukunft Unsicherheit, Ängste und Widerstände. Die Ist-Situation erscheint möglicherweise nicht perfekt, schafft aber durch Vertrautheit und Bekanntheit Sicherheit und Struktur: „Das Motiv für das Verlernen und neu lernen ist die Erkenntnis, dass die Fortsetzung der gegenwärtigen Arbeitsweise nicht mehr dazu führt, die eigenen Ziele zu erreichen. Es kommt zur >>Überlebensangst<<. Aber wenn man realisiert, was das neue Lernen wirklich bedeutet, entsteht >>Lernangst<<, weil das Lernen zu vorübergehender Inkompetenz und zum Verlust der Gruppenzugehörigkeit führen kann. Veränderung wird nur möglich, wenn die Überlebensangst größer ist als die Lernangst. Das lässt sich am besten erreichen, wenn man dem Lernenden psychologische Sicherheit vermittelt und dadurch die Lernangst reduziert. Der Schlüssel zur Transformation liegt darin, das Verhältnis zwischen Überlebensangst und psychologischer Sicherheit so zu gestalten, dass der Widerstand gegen die Veränderung überwunden wird“[5].

Das Thema Haltung – gedacht als Teil von Organisationskultur – wird damit für Führungs-, Leitungs- und Fachkräfte zu einer Reflexions- und Gestaltungsaufgabe. Die Wahrnehmung und steuernde Einbeziehung der Organisationskultur und ihrer dynamischen Entwicklungsverläufe erfordert einen permanenten Abgleich mit Rahmen und Richtung des Organisationsauftrages und der (sich weiter entwickelnden) Qualitätsziele des Jugendamtes. Hierzu bedarf es einer Kultur der Kommunikation über den gemeinsamen Weg zur Zielerreichung, den damit verbundenen formalisierten Erwartungen der Akteure an Rollen- und Funktionsträger*innen, deren Vorbildwirkung und der Unterstützung der individuellen Entwicklung der Mitarbeiter*innen. Es gilt: „Wenn Sie die Kultur nicht steuern, steuert die Kultur Sie, ohne dass Sie sich dessen bewusst sind.“[6]


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[1]     vgl. Mintzberg, Henry et al. (2002): Strategy Safari. Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements; S. 300.

[2]     Schein, Edgar H. (2003): Organisationskultur, S. 173f.

[3]     vgl. ebd., S. 175.

[4]     Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2001): Qualitätsentwicklung durch kollegiale Visitationen. Ein Projekt des LWL-Landesjugendamtes und der Stadt Herten. QS, Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe, Band 33. Online verfügbar unter https://www.bmfsfj.de/blob/94490/2ef6dd77e61a42d036f74a7493f5ed11/prm-10265-qs-33-data.pdf (zuletzt geprüft am 12.03.2018).

[5]     Schein, Edgar H. (2003): Organisationskultur, S. 176.

[6]     Ebd., S. 173.