Menschenbild
Autorin: Birgit Knichala
Das Menschenbild ist der begriffliche Rahmen, auf dessen Basis menschliches Tun beschrieben und der fundamentale Wert definiert wird. Es ist die Gesamtheit der Annahmen und Überzeugungen von dem, was der Mensch von Natur aus ist, wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele sein Leben hat oder haben sollte. Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen oder von den Menschen im Allgemeinen, enthält Traditionen der Kultur und Gesellschaft, Wertorientierungen und Antworten auf die Grundfragen des Lebens. „Damit liefert das Menschenbild zugleich ein grundlegendes Erklärungsmodell und einen Rahmen für die Entwicklung konkreter Handlungsstrategien“[1]. Jeder Mensch verfügt über ein Menschenbild, ob bewusst oder unbewusst. Dieses Menschenbild ist Grundlage seiner Handlungen. Interaktionen finden in der Form statt, was und wie über andere Menschen gedacht wird und was ihnen dabei für Eigenschaften zugeschrieben werden. Das Menschenbild hat Einfluss auf die innere und äußere Grundhaltung eines Menschen.
Noch in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts war das Menschenbild grundsätzlich und dementsprechend auch in der sozialen Arbeit geprägt von Werten wie Pflichterfüllung Disziplin, Gehorsam, Unterordnung, Fügsamkeit. Ab den späten 60er bis Mitte der 70er Jahre fand ein deutlicher Abbau der Pflicht- und Akzeptanzwerte zu Gunsten von Selbstentfaltung, Partizipation, Autonomie, Selbstverwirklichung und Eigenverantwortung statt. Im Ergebnis handelte es sich um eine Verschiebung der Grundstrukturen der menschlichen Wertausstattung. Der Wertewandel trat mit besonderer Deutlichkeit bei den jungen Menschen zutage. Er zeigte sich gleichzeitig dort am deutlichsten, wo das Bildungsniveau am höchsten war. Der Wertewandel selbst als Prozess ist nicht mehr existent, sodass die heutige Gesamtlage mit der Situation vor dem Wertewandel nicht mehr vergleichbar ist. Die Resultate allerdings bestimmen die sozialpolitische Situation in unserem Lande entscheidend mit.
Theoretische Konzepte über Menschenbilder bestehen in diversen anthropologischen Ausrichtungen, z. B. griechisch – christlich (Leib-Seele-Geist), philosophisch (Leben-Position-Handlung), psychologisch (Denken-Fühlen-Wollen), pädagogisch (Kopf-Herz-Hand), soziologisch (Handlung-Sozietät-Kultur). Auf Basis dieser in der Literatur besonders herausgestellten anthropologischen Dimensionen entstand das anthropologische Orientierungsmodell für soziale Berufe von Schilling[2]. Es bezieht sich auf sechs Dimensionen des menschlichen Seins, die in ein für pädagogisches Handeln übersichtliches Orientierungsmodell eingearbeitet wurden. Der Mensch in seiner Gesamtheit ist demnach ein
- körperlich / leibliches Wesen
- fühlendes Wesen
- denkendes Wesen
- handelndes Wesen
- soziales Wesen
- kulturelles Wesen.
Diese Dimensionen stellen die gedankliche Grundstruktur des Menschseins dar. Sie bilden eine Ganzheit und stehen in ständiger Wechselwirkung. Eine Fehlentwicklung wirkt sich negativ auf alle anderen Dimensionen aus.
In diesem Zusammenhang bietet auch das humanistische Menschenbild einen bedeutenden theoretischen Ansatz. Im Folgenden werden dessen Hauptthesen kurz dargestellt:[3]
Der Mensch ist von Natur aus gut und konstruktiv
Äußere Umstände können dazu führen, dass der Mensch sich destruktiv verhält. Dies ist ein situationsabhängiger Zustand und bedeutet nicht, dass der Mensch immer so war oder bleiben wird.
Der Mensch hat die Fähigkeit, sich zu entwickeln
Es liegt in der Natur des Menschen, sich weiterzuentwickeln. Wenn die Tendenz zur freien Entfaltung blockiert wird, ist der Mensch in seinem Wachstum und seiner Reifung gehemmt. Blockaden können sich auf das ganze Leben und das Selbstbild auswirken.
Der Mensch strebt nach Autonomie und Selbstverwirklichung
Der Mensch möchte unabhängig und frei in seinen Entscheidungen sein. Wenn entsprechende Erfahrungen bzw. Erlebnisse in das Bewusstsein gelangen, entsteht eine Selbstaktualisierungstendenz.
Entwicklung erfolgt aufgrund des Selbstkonzepts und der gemachten Erfahrung
Jeder Mensch entwickelt bereits in der Kindheit ein Selbstbild sowie im weiteren Verlauf ein Selbstideal. Beides definiert Rogers als Repräsentant des Humanismus als ‚Selbstkonzept‘. Werden gemachte Erfahrungen ignoriert, entsteht keine Beziehung zum Selbstkonzept. Wenn Erfahrungen in das Selbstkonzept integriert werden, erfolgt ein Anstoß zur weiteren Entwicklung.
Konflikte entstehen durch eine Inkongruenz zwischen Selbstkonzept und den gemachten Erfahrungen
Insbesondere Umwelteinflüsse und Medien können ein negatives Selbstkonzept entstehen lassen. Gefühle werden verdrängt, damit das Selbstkonzept erhalten bleiben kann. Dadurch können die eigenen inneren Vorgänge in einem starken Widerspruch mit dem Selbstkonzept stehen und erhebliche Ängste auslösen.
Akzeptanz, Empathie und Kongruenz unterstützen die Selbstaktualisierungstendenz
Kongruenz bedeutet Echtheit, d. h. sich ohne Verstellung seinen Erfahrungen und damit verbundenen Gefühlen zu stellen. Akzeptanz bedeutet, andere Menschen so zu nehmen wie sie sind ohne Beurteilung und Bewertung der Gefühle anderer. Empathie bedeutet das Hineinversetzen in andere Menschen, dessen Gefühle zu teilen und ihn und sein Handeln dadurch zu verstehen. Über diese Grundeinstellungen erhält man die Möglichkeit, eine Reflexion zu durchlaufen um sich seines Selbstkonzepts bewusst zu werden und zu einem Problemlösungsprozess zu gelangen.
„Humanismus ist eine Weltanschauung, die auf der abendländischen Philosophie der Antike zurückgreift und sich an den Interessen, den Werten und der Würde des einzelnen Menschen orientiert. Toleranz, Gewaltfreiheit und Gewissensfreiheit gelten als wichtige humanistische Prinzipien menschlichen Zusammenlebens“[4].
Menschenbilder sind typisierte Theorien über menschliche Verhaltens- oder Sichtweisen, die in der Praxis existent sind. Professionelle sind handlungsunfähig, wenn sie ihr Tun nicht durch den Filter eines bestimmten Menschenbildes vorsortieren. Wie jemand führt oder sich im Umgang mit anderen verhält, hängt stark mit seinem Menschenbild zusammen. Beispielsweise werden im Sprechen über andere Menschen unterschiedliche Bezeichnungen genutzt. Die Nutzung der Begriffe „Klient*in“ – Adressat*in“ – „Kund*in“ ist abhängig von dem dahinterstehenden Standpunkt und Konzept[5]. Der sozialarbeiterisch tätige Mensch leistet Bewusstseinsarbeit; für seine Aufgaben ist ein freiheitliches Menschenbild erforderlich – auch vor dem Hintergrund der Umstellung von einer kollektiven Daseinsfürsorge zur eigenverantwortlichen und persönlichen Selbstsorge, einschließlich eines individuellen Risikomanagements.
[1] König, Eckard und Volmer, Gerda (2005): Systemisch denken und handeln. Personale Systemtheorie in Erwachsenenbildung und Organisationsberatung, S. 34.
[2] vgl. Schilling, Johannes (2000): Anthropologie: Menschenbilder in der Sozialen Arbeit.
[3] vgl. Skora, Anna-Maria (2006): Das humanistische Menschenbild am Beispiel Carl Rogers.
[4] Saaman, Wolfgang (2012): Leistung aus Kultur: Wie aus „Arbeit-Nehmern“ Bestleister werden, S. 185.
[5] Aufgrund unterschiedlicher Verwendungen der Begrifflichkeiten Klient*innen, Adressat*innen und Kund*innen in den Jugendämtern der IBN, wurde keine einheitliche Nutzung im Kontext der IBN für diese Begrifflichkeiten festgelegt. Aus diesem
Grund sind auch in dieser Handreichung unterschiedliche Verwendungen zu finden.