Handreichung zum Aufbau von Kompetenzen einer selbständigen Lebensführung

 



 

Vorwort

 

Jugendliche in Heimen und Pflegefamilien müssen besondere Entwicklungsaufgaben meistern. Sie haben mindestens einen, viele sogar mehrere Brüche in ihrer Biografie. Pubertät bedeutet gerade für diese Jugendlichen, sich zusätzlich zu den Veränderungen und den für diesen Lebensabschnitt typischen Entwicklungsaufgaben (s. Kapitel 4) mit einer vom Durchschnitt der Bevölkerung häufig weit abweichenden und brüchigen Familiengeschichte auseinanderzusetzen bzw. auseinandersetzen zu müssen. Und in der Kinder‐ und Jugendhilfe nimmt dann auch noch ab dem 16. Lebensjahr der Druck hin zu einer wie auch immer gearteten „Verselbständigung“ spürbar zu. 

Während wir in der Gesellschaft insgesamt über die Ausdehnung der Jugendphase bis weit ins Erwachsenenalter diskutieren (s. Kapitel 4), muten wir ausgerechnet den Jugendlichen mit den schwierigsten Vorerfahrungen den schnellen Tritt aus dem Nest zu? So stellt sich zumindest die von Zeit zu Zeit durchaus brachial geführte Diskussion um die Hilfe für junge Volljährige dar. Die Realität in Zahlen der IBN und der statistischen Landesämter sieht etwas anders aus (s. Kapitel 3). 

Die Diskussion über die Lebensphase der jungen Volljährigen erhält aktuell über den 14. Kinder‐ und Jugendbericht der Bundesregierung neue Aktualität. Erstmals werden in einem Kinder‐ und Jugendbericht explizit und umfassend die besonderen Belange junger Erwachsener behandelt und als „Jahrzehnt der Verselbständigung“ überschrieben. Neben den Forderungen nach einer eigenständigen Jugendpolitik werden in dem Bericht insbesondere Schnittstellen und Übergänge analysiert. Gerade der wichtige  Übergang zwischen Schule und Beruf wird für die Klientel der Kinder‐ und Jugendhilfe hier schnell zum kritischen Ereignis.  „Resümierend kann festgestellt werden, dass die aktivierende Arbeitsmarktpolitik mit ihren Grundprinzipien des Forderns und Förderns – zumindest in ihrer bisherigen Ausprägung – viel zu sehr von einem homogenen Bild der jungen Menschen mit Qualifizierungsdefiziten, Motivationsproblemen und fehlender Leistungsbereitschaft ausgeht. Faktisch erweist sich das Angebot an Leistungen und Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung junger Menschen in prekären materiellen Lagen als zu undifferenziert und wenig tragfähig und kommt – angesichts der Überlastung des Personals in den Jobcentern und Arbeitsagenturen – entgegen den ursprünglichen Absichten der Gesetzgebung deutlich zu kurz. Demgegenüber wird die verschärfte Sanktionspraxis gegenüber jungen Menschen unter 25 Jahren ganz offensichtlich ohne Abstriche umgesetzt mit der Folge, dass die Gewichte zwischen Fordern und Fördern aus der Balance geraten. Hier deutet sich ein erheblicher Nachjustierungsbedarf sowohl im Wirkungskreis des SGB II als auch vor allem in der Abstimmung zwischen den Ansätzen und Angeboten im Wirkungskreis von SGB VIII, SGB II und SGB III an (vgl. 14. Kinder‐ und Jugendbericht der Bundesregierung (BT-Drs. 17/12200, S. 310).     

Die Arbeiten zu dieser Handreichung und das Erscheinen des Jugendberichts haben sich gekreuzt. Und genau so, wie uns die theoretisch wenig unterfütterte Diskussion über diese Aufgabe der Kinder‐ und Jugendhilfe aufgefallen ist, plädieren die Autoren des Jugendberichtes für einen veränderten Blick auf diese Lebensphase.  „Die vom Gesetzgeber im § 41 SGB VIII vorgesehene Ausrichtung der Volljährigenhilfe als „Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung“ hat noch zu selten in Praxiskonzepten Eingang gefunden. Die methodischen Ansätze in der Volljährigenhilfen stellen häufig eine bloße Verlängerung der auf „Erziehung“, „Fürsorge“, „Schutz“ und „Betreuung“ fokussierten Handlungsansätze bei Jüngeren dar, wo (zurückhaltende) Begleitung, Beratung und Brückenbauen in die Selbständigkeit angesagt wären (vgl. Will 2001; Nüsken 2008). Um die individuellen Unterstützungsbedarfe der jungen Volljährigen bei ihrer Verselbständigung zu begreifen, wäre vielmehr ein erweitertes Verständnis von Selbständigkeit vonnöten, welches neben Arbeit und Wohnen auch Identitätsthemen auf einer nichtfunktionalen Ebene mit einschließt (vgl. Rosenbauer 2011). Aus Adressatensicht haben bei den Hilfen für junge Volljährige auch die „Themenbereiche Selbstwertgefühl, Beziehungen zur Familie, Ausbildung, Wohnen und Finanzen“ eine hohe Bedeutung (vgl. Nüsken 2006b, S. 138).“ Interessanterweise hat „unsere“ Fachkräftebefragung zur Wichtigkeit der Themenbereiche rund um das Thema Selbständigkeit hier eine hohe Schnittmenge zu den Erkenntnissen der Autoren des Jugendberichts ergeben (s. Kapitel 4).  

Wir haben aus den Diskussionen im IBN‐Vergleichsring, der die Entstehung der Handreichung unterstützt und begleitet hat, vor allem drei Schlussfolgerungen gezogen, die für diese Handreichungen maßgeblich waren:  

1.  Es geht in den Hilfen zur Erziehung nicht in erster Linie um Verselbständigung sondern um die Entwicklung von Kompetenzen einer selbständigen    Lebensführung

2.  Die systematische und zielgerichtete Entwicklung dieser Kompetenzen sollte als ein Kernprozess der erzieherischen Hilfen stärker im Hilfeplanprozess verankert werden. 

3.  Wir empfehlen die aktive Bearbeitung der Thematik „Selbständigkeit“ im Hilfeplanprozess ab dem 12. Lebensjahr (s. Kapitel 6)  

 

Diese Handreichung unternimmt den Versuch, das Thema „Selbständigkeit“ theoretisch zu fundieren und so den Hilfeplanprozess zu qualifizieren. Die großen Disparitäten in der Inanspruchnahme der Hilfe sowie die Bedeutung des „Jahrzehnts der Verselbständigung“ für das Gelingen oder Scheitern von Lebensläufen waren unser Antrieb und unser Auftrag. Die Handreichung ist entstanden aus einer intensiven Befassung eines einzelnen Vergleichsrings der IBN, was auch im Sinne einer veränderten Ergebnisorientierung der Integrierten Berichterstattung ein Novum darstellt (vgl. 14. Kinder‐ und Jugendbericht der Bundesregierung BT‐Drs. 17/12200, S. 504)  Den beteiligten und unterstützenden Jugendämtern sowie allen freien Trägern, Pflegepersonen und Kolleginnen und Kollegen des LS, die an der Befragung mit‐ gewirkt haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. 

Dr. Friedrich‐Wilhelm Meyer

Joachim Glaum

Henning Gabel      

 

 

Empfehlungen zur Implementierung der Handreichung  

 

Die vorliegende Handreichung ist das Ergebnis eines längeren und intensiven Diskussionsprozesses im Rahmen der regelmäßigen Sitzungen des beteiligten Vergleichsringes der IBN. Aus Sicht dieser Jugendämter wird empfohlen:

  • Das Kernelement Ihres Handelns und Wirkens sind Ziele – Ihre Ziele zur Steuerung und die Entwicklung und Vereinbarung von Zielen in der konkreten Hilfeplanung. 
  • Für den planvollen Aufbau von Kompetenzen einer selbständigen Lebensführung benötigen Sie die entsprechende Zielperspektive. 
     
  • Vermitteln Sie in Ihrem Team, Ihrem Fachdienst das fachliche Konzept, das hinter den Handreichungen steht.
     
  • Fokussieren Sie die Nutzung der Handreichung nicht ausschließlich auf das Instrument für die Hilfeplanung!
  • Nutzen Sie dieses Instrument zur Selbsteinschätzung in jedem HP‐Prozess zum Aufbau und zur Überprüfung von Kompetenzen zur Selbständigkeit junger Menschen ab dem Alter von 12 Jahren.
  • Festgestellte fehlende oder nicht ausreichend entwickelte Kompetenzen sollten bei der weiteren Hilfeplanung berücksichtigt werden und als  Zielformulierung in den nächsten Hilfeplanabschnitt einfließen.

 

 

Beteiligte Institutionen

 

Nds. Landesamt für Soziales, Jugend und Familie,  Am Waterlooplatz 11, 30169 Hannover

In Zusammenarbeit mit  Gesellschaft für Beratung sozialer Innovation und Informationstechnologie (GEBIT) in Münster   

Autoren: Dr. Friedrich‐Wilhelm Meyer, Münster Henning Gabel, Joachim Glaum, 

unter Mitwirkung des IBN‐Vergleichsrings 4b: Landkreis Ammerland Landkreis Celle Landkreis Cuxhaven Region Hannover Landkreis Hildesheim Stadt Lingen Landkreis Lüneburg Landkreis Nienburg Landkreis Stade Landkreis Wesermarsch   sowie Annalena Groth (redaktionelle Bearbeitung)  

Hannover, Juni 2013