Kernprozess Steuerung
Autor: Stefan Opitz
In der Fachliteratur ist es üblich, Steuerung in sog. Steuerungskreisläufen oder Rahmenkonzepten der Steuerung abzubilden. Neben der Darstellung eines prozessual gedachten Ablaufs des Steuerungsgeschehens versuchen diese Modelle in der Regel, die Dimension der Zieleerreichung mit den erforderlichen oder verfügbaren Ressourcen zu verknüpfen.
In der Handlungslogik der öffentlichen Verwaltung wird dann – oft in einem instrumentell-mechanistischen Verständnis – versucht zu steuern. In einem solchen schematischen Steuerungsverständnis bleiben jedoch wichtige steuerungsrelevante Wirkfaktoren und deren Wirkungszusammenhänge unberücksichtigt bzw. ungesteuert. In der Folge werden erhoffte Steuerungswirkungen nicht erreicht oder von unerwünschten Nebenwirkungen überlagert.
Wenn man sich also mit einem nichtschematischen Steuerungsverständnis im Jugendamt – ausgelöst durch die Beschäftigung mit den sog. „weichen Faktoren“, denen die Fragen nach professioneller Haltung zuzuordnen sind, beschäftigt, geht der Blick auf die soziale Dynamik in der Organisation Jugendamt.
Die soziale Dynamik ist eine Folge des Verhaltens von Gruppen, die miteinander interagieren. In der Interaktion entstehen Wechselwirkungen, die wieder auf die Ebene der Verhaltensweisen dieser Gruppen zurückwirken und neue Wechselwirkungen auslösen. Die so entstehenden Rückkopplungsschleifen schreiben sich u. U. über mehrere Eskalationslevels fort. Bei der Betrachtung von Jugendämtern lassen sich viele dieser sozialen Dynamiken finden. Folgende seien exemplarisch aus der Vergleichsringarbeit der IBN genannt:
Dynamik Sozialarbeiter*innen – Controller*innen
Die Zuschreibung der Controller*innen an die der Sozialarbeiter*innen ist, zu unreflektiert, „aus dem Bauch“ heraus und nicht rational zu agieren. Im Selbstverständnis, mehr Rationalität in das Handeln des Jugendamtes zu bringen, sind die Controller*innen jedoch auf die prozessproduzierten Daten aus den Fallakten der Sozialarbeiter*innen angewiesen.
Die Zuschreibung der Sozialarbeiter*innen an die Controller*innen besteht im Gegensatz dazu darin, datenfixiert und statistikgläubig zu sein und so die Komplexität der realen Situation in unzulässiger und den Fallkontexten nicht angemessener Weise zu reduzieren.
In der Fortführung dieses Dynamikmusters bedienen sich die Controller*innen eines IT-Systems und der Autorität der Leitungen, um die Sozialarbeiter*innen zur Erfassung der von ihnen gewünschten Daten zu veranlassen. In der Wechselwirkung wählen die Sozialarbeiter*innen häufig den (Aus-)Weg von unvollständigen Dateneingaben, Fehleingaben oder Datenungenauigkeit, mit der Folgewirkung, dass schlechte bis unbrauchbare Datenqualitäten bei den Controller*innen ankommen.
Bei den Controller*innen vertieft sich nun wiederum die Zuschreibung der fehlenden Rationalität im sozialarbeiterischen Handeln um die Zuschreibung, dass Sozialarbeiter nicht an der Überprüfung ihrer Arbeit interessiert seien usw.
Dynamik Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) – Wirtschaftliche Jugendhilfe (WJH)
An der Schnittstelle zwischen ASD und WJH bearbeiten zwei Berufsgruppen aufeinander aufbauende Teilprozesse der Leistungsgewährung von Hilfen zur Erziehung. Die Berufsgruppe im ASD sind die Fachkräfte der sozialen Arbeit mit den entsprechenden Berufsabschlüssen, die Berufsgruppe in der WJH sind Verwaltungsmitarbeitende. Dieser Umstand allein vermag schon für hinreichende Dynamik zu sorgen, da beide Gruppen unterschiedliche berufliche Sozialisationen, Annahmen und Haltungen mitbringen.
In der Leistungsgewährung der HzE ist die WJH oftmals auf die korrekte und vollständige Erhebung, Dokumentation und die rechtzeitige Weitergabe der Fallinformationen im Vorprozess durch den ASD angewiesen. Nicht alle Fachkräfte der Sozialen Arbeit betrachten derartige Verwaltungsarbeiten als regulären Bestandteil ihrer Aufgaben im Jugendamt.
Eine hohe Arbeitsdichte, kleinteilige Regelungen und komplizierte Adressatenkonstellationen führen oftmals dazu, dass die WJH die für ihren Teilprozess erforderlichen Informationen nicht pünktlich und nicht vollständig bekommt. Sie muss also erinnern und nachfassen. In der Wahrnehmung der ASD-Kolleg*innen kommt diese Nachforderung „noch oben drauf“, sie fühlen sich kontrolliert. Bei der WJH entsteht der Eindruck, „dran“ bleiben zu müssen, sie erhöht die Controllingdichte - usw.
Dynamik ASD – Pflegekinderdienst (PKD)
ASD und PKD können in eine Dynamik konkurrierender Vorstellungen darüber geraten, was in einer Vollzeitpflege Kind, Pflegefamilie und Herkunftsfamilie zugemutet werden kann bzw. was das Beste für das Kind ist.
PKD entwickeln in der gemeinsamen Fallarbeit oftmals bindungstheoretisch orientierte Argumentationslinien, die in ihrer Absolutheit wenig Spielraum für Hilfeideen und -settings jenseits der Pflegefamilie lassen. In der Wahrnehmung des ASD werden daraus schnell Totschlagargumente, die die Grenzen der Hilfeausgestaltung sehr eng ziehen und wenig bis keine neuen Ansätze zulassen. Hilfeplanungsprozesse werden in der Folge oftmals als ein Gegeneinander in einem Wettbewerb um die bessere Fachlichkeit erlebt, den der ASD nicht gewinnen kann.
Dieses Grundmuster verstärkt sich insbesondere dann, wenn durch den ASD die Unterbringung des Pflegekindes bis zur Volljährigkeit hinterfragt wird oder Rückführungsmöglichkeiten in die Herkunftsfamilie geprüft und eröffnet werden sollen usw.
Diese Dynamiken können sich zu Mustern verdichten, welche Jugendämter in zahlreichen Varianten beschreiben können. Eine nichtschematische Form der Steuerung bezieht diese Dynamiken, die dahinter liegenden Handlungstheorien und mentalen Modelle in das Steuerungsgeschehen mit ein.
Mentale Modelle sind so etwas wie „subjektive Funktionsmodelle“ der Wirklichkeit die zur Reduzierung von komplexen Gegebenheiten im Alltag gebildet werden. So verfügen Controller*innen über ein mentales Modell darüber, wie die Sozialarbeiter*innen arbeiten und umgekehrt auch. Diese mentalen Modelle werden handlungsrelevant und manifestieren sich in bestimmten Grundhaltungen. Das Moment einer professionellen Haltung bestünde darin, die mentalen Modelle, also die inneren Weltbilder der Akteure des Jugendamtes zu reflektieren, sich um ihre kontinuierliche Klärung und Verbesserung zu bemühen und zu erkennen, wie sie die eigenen Handlungen und Entscheidungen in der Leistungsgewährung und -steuerung beeinflussen.
Wenn Steuern in einem nichtschematischen Verständnis die beabsichtigte Beeinflussung des Verhaltens von Gruppen in dieser Organisation ist, richtet sich die Frage der Steuerung also darauf, welcher Reiz oder Input, welche Information, Nachricht oder Veränderung des Settings – kurz welche Intervention geeignet ist, verändernd einzuwirken. Das setzt neben der Idee und dem Ausprobieren wirksamer Interventionen zur Situationsveränderung eine Vorstellung über die erhofften Wirkungen oder die anzustrebenden Zustände – also von Zielen voraus.
In der IBN-Vergleichsringarbeit gab es einen hochspannenden Moment, in welchem die existierenden mentalen Modelle von Controller*innen und Sozialarbeiter*innen offensichtlich wurden. Als Intervention war das lockende, beständige Nachhaken der Moderation ausreichend. In der Folge konnten die mentalen Modelle und daraus resultierenden Grundhaltungen reflektiert, in ihren Wirkungen eingeschätzt, verhandelt und überprüft werden. Ergebnis dessen war die Erkenntnis, dass die formulierten Grundhaltungen keinen weiteren Bestand haben konnten, sondern von beiden beteiligten Seiten modifiziert werden mussten. An dieser Stelle ergab sich ein Ansatzpunkt für Steuerung. Die Herausforderung besteht in diesem Beispiel darin, den Transfer aus der Laborsituation des IBN-Vergleichsringes gelingend in die Realsituation des Jugendamtes zu vollziehen.
Der Auftrag zur Steuerung der Organisation Jugendamt richtet sich an die Leitungsebene. Leitung ist als Teil der Organisation auch Teil der darin existierenden Dynamiken. Auch sie nutzt mentale Modelle, die sich in Grundhaltungen manifestieren und Handlungen und Entscheidungen beeinflussen. Die Herausforderung besteht darin, im Steuerungsprozess eine Beobachtung zweiter Ordnung einzunehmen. Unter einer Beobachtung zweiter Ordnung wird die Beobachtung der Beobachtung verstanden.
Ein Gedankenexperiment kann dies verdeutlichen: Sie stehen auf dem Tennisplatz und spielen ein Match. In der Beobachtung zweiter Ordnung nehmen Sie zugleich auch auf der Tribüne Platz und beobachten sich beim Tennisspiel. Übertragen auf die Situation im Jugendamt bedeutet dies, dass Sie als Teil der Dynamik in der Situation agieren, während Sie zugleich mit Distanz auf die Situationsdynamik schauen und die Wechselwirkungen und Rückkopplungsschleifen des Handelns wahrnehmen.
Ein Steuerungsprozess gewinnt an Qualität und Wirkung, wenn bei Mitarbeitenden und Leitung die Reflexion von mentalen Modellen und Haltungen sowie die Wahrnehmung und zielgerichtete Beeinflussung von Dynamiken Teil des Steuerungsverständnisses werden. Die Herausforderung bleibt es, mit den richtigen Interventionen in die richtige Richtung zu steuern.