1. Einleitung
1.1 Erkenntnisse, Beobachtungen, Vermutungen und Hypothesen
Auslöser für die empirische Studie zum Themenbereich „Verselbständigung“ waren Überlegungen des Landkreises Wesermarsch, die bisherige Quote der Leistungen für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII zu verändern, konkret senken zu wollen.
Die bisherigen Analysen der IBN haben gezeigt, dass sozialstrukturelle Aspekte und die soziale Lage der Menschen im Zuständigkeitsbereich eines Jugendamtes in keinem statistisch nachweisbaren Zusammenhang mit der Ausprägung der Leistungsquote für junge Volljährige verantwortlich gemacht werden können (s. Kapitel 2). Es gibt keine signifikanten Beziehungen zwischen derartigen Merkmalen und dem Leistungsbezug gemäß § 41 SGB VIII. Dennoch schwankt die Quote der Leistungsgewährung für diesen Leistungsbereich des Sozialgesetzes erheblich zwischen den Jugendämtern. Insofern gibt es offenkundig andere Wirkungszusammenhänge, die bisher im Rahmen der IBN nicht über empirische Daten und statistische Analysen untersucht werden konnten.
Ein Erklärungsansatz für die Unterschiedlichkeit in der Ausprägung dieser Leistungen bilden „Normalitätskonstruktionen“ von Fachkräften hinsichtlich der von Ihnen für erforderlich gehaltenen Kompetenzen junger Menschen, ihr Leben eigenständig zu führen. Offenkundig, so die Annahme, erfolgt in konkreten Situationen der Entscheidung über die Leistungsgewährung gemäß § 41 SGB VIII ein Abgleich zwischen den seitens der Fachkräfte für erforderlich gehaltenen Kompetenzen junger Menschen mit den in der konkreten Situation wahrgenommenen Kompetenzen potentieller Adressaten der Jugendhilfe. Fällt aus Sicht der Fachkräfte die Differenz im Sinne eines Soll-Ist-Abgleichs so aus, dass ein erheblicher Entwicklungsbedarf beim Adressaten diagnostiziert wird, wird eine Leistung gemäß § 41 SGB VIII eingeleitet.
Dieser Prozess der Definition und Entscheidung in einer Situation über den Leistungsbereich ist aber nicht nur ein begrenzt explizit reflektierter Vorgang, sondern folgt eher den Mechanismen, die von Alfred Schütz als „Konstruktion von Wirklichkeit“ und insbesondere mit der „Typisierung des Wissens“ im Sinne vor-bewusster Vorgänge ausführlich beschrieben worden ist.[1] In diesem nur bedingt reflektierten Prozess des Abgleichs zwischen den eigenen Wissensbeständen und den beobachteten Tatsachen der Wirklichkeit, sind die für relevant gehaltenen Kompetenzen zur Lebensbewältigung junger Menschen aus Sicht der Fachkräfte offenbar eine entscheidungsrelevanter Faktor.
Im Kontext der Diskussion wurde von den Fachkräften der beteiligten Landkreise zudem die Beobachtung geschildert, dass die Gewährung der Hilfen für junge Volljährige offenbar in besonders großem Maße diejenigen jungen Menschen betrifft, die zuvor in einer Pflegefamilie im Rahmen von Hilfen gemäß § 33 SGB VIII gewährt wurden.
Die Frage, die sich damit verbindet, lautet: wieso gelingt es nicht im Verlauf der „regulären“ Hilfe zur Erziehung das Erziehungsziel der Selbständigkeit der Lebensführung zu erreichen.
Zusammengefasst bedeutet dies, die Normalitätskonstruktionen der Hilfe gewährenden Fachkräfte entscheiden in hohem Maße darüber, ob eine Jugendhilfeleistung für junge Volljährige erbracht wird oder nicht.
Des Weiteren wird vermutet, dass sich die diesbezüglichen Vorstellungen zu entsprechenden Kompetenzen bei Jugendlichen von Fachkräften in Abhängigkeit von ihrem Handlungsfeld im Rahmen der Jugendhilfe unterscheiden.
So wird vermutet, dass sich die Normalitätserwartungen von
- Fachkräften des Allgemeinen Sozialen Dienstes im Jugendamt von denen des
- Spezialdienstes „Pflegekinderwesen“ ebenso unterscheiden lassen, wie die Kompetenzerwartungen von
- Pflegeeltern gegenüber dem
- pädagogischem Personal in Heimeinrichtungen.
Des Weiteren wurde vermutet, dass es Unterschiede zwischen den
- Fachkräften und den jeweiligen Leitungskräften der entsprechenden Organisation gibt.
- Davon noch einmal zu unterscheiden sind die Erwartungen, die junge Menschen an die eigenen Kompetenzen in der Lebensphase 18 bis 21 Jahre an sich selbst haben, um sich als eigenständig - d.h. ohne fremde Hilfe - im Leben orientieren zu können.
1.2 Methodisches Vorgehen
Einen Ansatzpunkt für eine Überprüfung dieser Vermutungen bot dabei ein vom Landkreis Wesermarsch eingebrachter Fragebogen zur „Verselbständigung“ von Adressaten, den der Landkreis im Prozess der Hilfegewährung einsetzen wollte[2]. In diesem Erhebungsinstrument werden unterschiedliche Lebensbereiche fokussiert, denen bestimmte Kompetenzen zugeschrieben werden. Hinsichtlich dieser Lebensbereiche sollen in diesem Instrument sowohl die Hilfe leistende Fachkraft, als auch der Adressat entsprechende Kompetenzen einschätzen. Im Einzelnen handelt es sich dabei um folgende Themenbereiche:
- Finanzen
- Wohnen
- Gesundheit
- Eigenverantwortung
- Netzwerk
Jedem dieser Themenbereiche sind entsprechende konkretisierende Aussagen zugeordnet, so dass zum Beispiel zum Themenbereich „Finanzen“ die folgende Aussage „Ich teile mir mein Geld so ein, dass es für den gesamten Monat reicht.“ auf einer dreistufigen Skala von „Das kann ich schon gut“, „Das kann ich noch nicht so gut“ bis „Das kann ich noch gar nicht“ eingeschätzt werden.
Aus der Differenz von Fremd- und Selbstbild des Adressaten zu seinen Kompetenzen sollen so Anhaltspunkte für die Entscheidungsfindung zu Gewährung einer entsprechenden Leistung abgeleitet werden.
Das Thema der „Verselbständigung“ wird damit übertragen auf Aspekte von Kompetenz. Wenn die Vermutungen zutreffen, müssten sich unterschiedliche Einschätzungen von Fachkräften aus den unterschiedlichen oben genannten Bereichen des Systems der Jugendhilfe zeigen. Um diese Fragestellung überprüfen zu können, bedurfte es der Reformulierung der Aussagen im ursprünglichen Erhebungsbogen, so dass er durch die Befragten eingeschätzt werden konnte. Die Fragen wurden dabei so in ihrer Formulierung verändert, dass es sich um die Beurteilung von Erwartungen an die Kompetenzen von jungen Menschen ab dem Alter von 18 Jahren handelte. Die Erwartungen, die Fachkräfte bezüglich der Ausprägung und Relevanz von Kompetenzen haben, um das eigene Leben selbständig zu gestalten, rücken dabei in den Mittelpunkt der Untersuchung.
1.3 Gestaltung des Erhebungsinstrumentes
Um die Erwartungen der Fachkräfte an die Kompetenzen junger Menschen zu erheben, wurden die Formulierungen des ursprünglichen Fragebogens so modifiziert, dass sie aus der Perspektive von Fachkräften an junge Menschen gerichtet formuliert wurden.
So wurde zum Beispiel eine ursprüngliche Frage aus dem Bereich Finanzen:
„Mein Umgang mit Geld ist so, dass ich mich nicht verschulden bzw. Geld leihen muss (Handy, Konto)“ umformuliert in:
„Für mich bedeutet Selbständigkeit, … mit Geld so umzugehen, dass man sich nicht verschuldet bzw. Geld leihen muss (Handy, Konto).“
Beantwortet werden sollten diese Aussagen von den verschiedenen Fachkräften anhand einer fünfstufigen Skala entsprechend des Grades der Zustimmung. Zudem sollten die Fachkräfte die einzelnen Aussagen, die sie zuvor bewertet hatten, bezüglich ihrer Priorität für die Selbständigkeit eines jungen Menschen gewichten.
Auf diese Weise sollten sowohl der Grad der Zustimmung der Fachkräfte zu definierten Kompetenzen junger Menschen, als auch deren Bedeutsamkeit für eine selbständige Lebensführung - aus Sicht der Fachkräfte - ermittelt werden [3].
1.4 Die Stichprobe
Über die am Vergleichsring beteiligten Jugendämter wurden entsprechend der oben dargestellten Systematik sowohl die Fachkräfte des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe als auch Fachkräfte der freien Träger angesprochen und gebeten, sich an der Erhebung zu beteiligen. Damit nicht nur die Perspektiven von Fachkräften aus Landkreis-Jugendämtern Eingang und Berücksichtigung finden, sondern auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus städtischen Jugendämtern einbezogen werden, wurde die Befragung auf weitere Jugendämter der IBN außerhalb des Vergleichsringes IVb ausgedehnt.
Zudem wurden die Zugangsmöglichkeiten einzelner Fachkräfte des Vergleichsrings zu jungen Menschen genutzt, um auch diese Personengruppe für eine Mitwirkung an der Erhebung zu gewinnen. Dabei handelt es sich jedoch im Wesentlichen eher um Studierende der Sozialen Arbeit und weniger um die Adressaten entsprechender Leistungen. Wie sich diese letztgenannte Gruppe gegenüber den anderen jungen Menschen darstellt, konnte im Rahmen des Projektes bisher noch nicht geklärt werden.
Durch das Engagement und den Einsatz der beteiligten Jugendämter des Vergleichsringes IVb wurde es möglich, eine relevante Anzahl von Fachkräften und jungen Menschen bezüglich ihrer Einschätzungen von Kompetenzen zu Selbständigkeit zu befragen.
Das Ergebnis wird nachfolgend im Überblick vorgestellt. Es bildet die Grundlage für weitergehende Handreichungen bezüglich der Entscheidungsfindung, ob in einer konkreten Situation eine Leistung gemäß § 41 SGB VIII erforderlich ist oder nicht. Ziel ist es, auf der Grundlage dieser Erkenntnisse Handreichung zu formulieren, die die Qualität der Entscheidungen über die Gewährung dieser Hilfen in den Jugendämtern erhöhen.
[1] Vergleich dazu: Schütz, A.; Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, erste Auflage, Frankfurt am Main 1974; ferner, Schütz, A., Luckmann, TH.: Strukturen der Lebenswelt Bd. 1, erster Auflage, Frankfurt am Main 1979
[2] siehe dazu das Dokument in der Anlage.
[3] siehe dazu den Erhebungsbogen für Fachkräfte in der Anlage