0. Zur Einführung


 


 

0.1 Entstehung und Anliegen der Empfehlungen

Niedersachsen hat sich auf den Weg gemacht, möglichst flächendeckend den Pflegekin-derbereich zu qualifizieren. Beabsichtigt und politisch gewollt ist, den Stellenwert der Voll-zeitpflege im Rahmen der erzieherischen Hilfen zu stärken, für mehr Kinder geeignete Pflegefamilien zu finden und hierüber auch Heimunterbringungen zu vermeiden. Die „An-regungen und Empfehlungen für die niedersächsischen Jugendämter" fühlen sich diesem Anliegen verpflichtet.

Die erarbeitete Weiterentwicklung der Vollzeitpflege unterscheidet sich von anderen be-reits vorliegenden oder im Entstehen begriffenen Handbüchern zu diesem Arbeitsfeld durch ihre Entstehungsgeschichte, ihre Arbeitsweisen und die Art und Weise ihrer Argumentation.

Das Projekt verdankt seine Entstehung der vorangegangenen Untersuchung „Strukturen der Vollzeitpflege in Niedersachsen". Die im Jahr 2003 abgeschlossene, vom Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit des Landes Niedersachsen initiierte, vom Ministerium und der Stiftung zum Wohl des Pflegekindes finanzierte und von einem Beirat aus erfahrenen Praktikerinnen und Praktikern aus dem Pflegekinderbereich begleitete Un-tersuchung hatte über eine nahezu alle niedersächsischen Jugendämter umfassende Ju-gendamtsbefragung sowie über eine Pflegeelternbefragung im Kern vor allem völlig un-terschiedliche Bedingungen für den Pflegekinderbereich in den kommunalen Jugendäm-tern erbracht. Sie unterschieden sich – in oft konträrer Weise – in der Form der organisa-torischen Einbindung der Pflegekinderarbeit in das jugendamtliche Handeln, im Differen-zierungsgrad, in den Fallzahlen je Fachkraft, in Finanzierungs- und Ausstattungsfragen sowie in Arbeitsabläufen und Aufgabenzuschnitt. Im Ergebnis zeigte sich damit, dass Pflegeeltern – je nach Wohnort – ganz unterschiedliche Bedingungen vorfinden, es keine allgemein akzeptierten Qualitätsstandards für den Pflegekinderbereich gibt und eine sinn-volle Kooperation zwischen verschiedenen Jugendämtern so gut wie ausgeschlossen ist. Das Ministerium nahm die Ergebnisse zum Anlass, das Weiterentwicklungsprojekt zu initi-ieren, um hierüber einen Beitrag zur Überwindung von Ungleichheiten im niedersächsi-schen Pflegekinderwesen zu leisten, vergleichbaren Qualitätsstandards zum Durchbruch zu verhelfen und die „Sache der Pflegekinder" voranzubringen.

Die Idee war von vornherein, die Empfehlungen in enger Kooperation mit der Praxis zu entwickeln. Anregungen und Vorschläge sollten nicht am „grünen Tisch" und in wissen-schaftlicher Akribie, sondern von den beteiligten Jugendämtern und den weiteren beteilig-ten Institutionen und Personen in einem diskursiven, eng an Praxis und Erfahrungen ori-entierten Prozess erarbeitet und gleichzeitig in den Modellregionen erprobt werden. Nach einem Interessenbekundungsverfahren wurden von der beauftragten Gesellschaft für in-novative Sozialforschung und Sozialplanung e.V. (GISS) und dem aus der Untersuchung übernommenen Beirat vier – sich nach den Kriterien „Stadt/Land", „Region" und „Größe" unterscheidende – an der Umsetzung der Empfehlungen interessierte Jugendämter aus-gewählt (die Jugendämter der Stadt Celle, der Stadt Oldenburg, des Landkreises Wolfen-büttel und des Landkreises Nienburg). Sie haben zusammen mit dem Beirat (Vertreterin-nen und Vertreter der Jugendämter der Stadt Hannover, der Landkreise Osnabrück und Lüneburg, ein Vertreter des Ministeriums, ein Vertreter der Stiftung zum Wohl des Pflege-kindes, ein Wissenschaftler der Universität Bremen) in dreijähriger Arbeit die Empfehlun-gen erarbeitet und in Rückkoppelung mit den jeweiligen Jugendamtsverwaltungen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beteiligten Pflegekinderdienste den Kern der Empfehlungen umgesetzt. Empfohlen werden insoweit nur Verfahrens- und Arbeitswei-sen, deren Machbarkeit sich bereits erwiesen hat.

Dieses Vorgehen prägt auch die Art und Weise der Argumentation. Aufgegriffen wurden jene Themen, die sich in der Praxis entweder als ungeklärt oder unbefriedigend gelöst herauskristallisiert haben und deren Vereinheitlichung den größten Effekt für eine gemeinsame „Politik" und Qualität des niedersächsischen Pflegekinderwesens erwarten lässt. Letzteres wurde vor allem für Fragen der Vereinheitlichung von Differenzierungsfor-men im Pflegekinderbereich, eine Vereinheitlichung von finanziellen Konditionen für Pfle-geeltern und für die Vereinheitlichung von Standards für die Organisationsentwicklung und von Kooperationsbeziehungen zwischen ASD und Pflegekinderdiensten innerhalb der Jugendämter sowie für Regelungen für die Kooperation zwischen Jugendämtern ange-nommen. Die entsprechenden Empfehlungen zu diesen Bereichen machen dann auch den Kern dieser Weiterentwicklung der Vollzeitpflege in Niedersachsen aus. Die Verfasse-rinnen und Verfasser der Empfehlungen sind davon überzeugt, dass Standardentwicklun-gen in diesen Bereichen eine notwendige Voraussetzung für eine flächendeckende Quali-tätsoffensive in Niedersachsen sind und viele vermeidbare Probleme – für die die endlo-sen Diskussionen um den § 86 Abs. 6 nur die Spitze des Eisbergs sind – produktiv ange-gangen werden können. Bei der Formulierung der Empfehlungen kam es den Verfassern freilich auch darauf an, eine Balance zwischen Vereinheitlichung und Eigenständigkeit der angesprochenen niedersächsischen Jugendämter zu finden, und hierüber unterschiedli-che Wege zum selben Ziel nicht auszuschließen.

Zentrale Teile der Empfehlungen befassen sich mit der inhaltlichen Arbeit von Pflegekin-derdiensten, den Fachfragen im engeren Sinne. Für die Diskussion solcher Fragen kann auf Praxiserfahrungen, eine bewährte Praxis und

Best-practice -Projekte sowie die Fach-diskussion zurückgegriffen werden. Für Empfehlungen zur fachlichen Ausgestaltung des Pflegekinderbereichs ist aber auch zu konstatieren, dass sie nicht „objektiv" formuliert werden können, immer auch ein subjektives Moment beinhalten und von grundlegenden Menschen- und Gesellschaftsbildern abhängig sind. Zu diesen Fragen enthalten die Emp-fehlungen Ergebnisse, auf die sich die Beteiligten einigen konnten. Für an der Erarbeitung nicht Beteiligte wird das Erarbeitete als Anregung für die eigene Verständigung vorge-stellt.

Überhaupt sollten die Empfehlungen nicht als ein ein für alle Mal fertiges „Produkt" be-trachtet werden. Die Dinge – Rahmenbedingungen, gesellschaftliche Voraussetzungen, Fachdiskussionen, das Methodenrepertoire – entwickeln sich weiter. Man wird den Emp-fehlungen darum am besten gerecht, wenn man sie als Angebot zur Reflexion und zur Überwindung gegenwärtiger Strukturmängel und als Angebot zur permanenten Weiter-entwicklung der fachlichen Arbeit liest.

Die Empfehlungen hätten nicht ohne das Engagement der beteiligten Personen, die finan-zielle Beteiligung der Modellregionen, die organisatorische, personelle und finanzielle Be-teiligung des Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit des Landes Nie-dersachsen und eine großzügige Zuwendung der Klosterkammer erarbeitet werden kön-nen. Den genannten Personen, Behörden und Institutionen sei herzlich gedankt.

Neue gesetzliche Regelungen und die Weiterentwicklung der Pflegekinderhilfe – wie sie z. B. 2011 im „Handbuch Pflegekinderhilfe" des Deutschen Jugendinstitutes ihren Nieder-schlag gefunden hat –, machten 2012 eine Anpassung der Empfehlungen nötig. Diese Anpassung wurde vom Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit des Landes Niedersachsen finanziert und fand von September 2012 bis Januar 2013 statt.

Die Entwicklung in der Pflegekinderhilfe (z. B. bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlin-gen und beim Kinderschutz in Pflegefamilien) und die Erfahrungen bei der Umsetzung der Empfehlungen zeigten, dass eine weitere Anpassung der Empfehlungen notwendig war. Diese fand im Frühjahr 2016 statt und wurde durch das Ministerium für Soziales, Gesund-heit und Gleichstellung des Landes Niedersachsen finanziert und unter der Federführung des Landesjugendamtes durchgeführt.

 

0.2 Aufbau und Gliederung

Die Empfehlungen sind in zwei Hauptteile und einen Anhang gegliedert.

Teil A ist Strukturfragen und Strukturqualitäten für das niedersächsische Pflegekinderwe-sen gewidmet. Er enthält eine Empfehlung über Differenzierungsformen im Pflegekinder-bereich, Empfehlungen zur Organisation und Kooperation in der Vollzeitpflege, Erörterun-gen über Aufgabenbereiche von Pflegekinderdiensten und Empfehlungen zu Finanzie-rungs- und Personalbemessungsfragen. Zentrale Punkte bilden Kapitel 1 (Formen der Vollzeitpflege) und Kapitel 4 (Kosten und Personalbemessung). Diese Kapitel werden als unabdingbare Voraussetzungen für eine einheitliche Grundausrichtung des Pflegekinder-wesens in Niedersachen angesehen. Die Vorschläge zur Gestaltung der Organisation und Kooperation sind als Anregungen zu verstehen, die dazu beitragen sollen, eine eigene Praxis zu entwickeln. In der Form sind die Abschnitte dieses Teils unmittelbar auf Umset-zung gerichtet, wofür z. B. konkrete Leistungsbeschreibungen für Pflegeformen, tabellari-sche Zusammenfassungen und konkrete Vorschläge für Kooperationsvereinbarungen stehen.

Teil B folgt im Aufbau den von Fachkräften im Pflegekinderbereich zu leistenden Arbeits-schritten von der Beteiligung an der Hilfeplanung über die Gestaltung des Hilfeprozesses im Vorfeld der Pflege, die Gestaltung des Hilfeprozesses in der Begleitung des Pflegever-hältnisses bis zur Gestaltung des Hilfeprozesses bei der Beendigung der Pflege. Darüber hinaus beschäftigt sich ein Kapitel mit fallübergreifenden Aufgabenbereichen (Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, Vorbereitung und Qualifizierung von Pflegeeltern, öffentliche Be-richterstattung und Evaluation). Die einzelnen Kapitel und Unterkapitel spiegeln den Dis-kussionsstand in der Projektgruppe, sie sind mal intensiver ausgearbeitet, beschränken sich in anderen Fällen auf kurze Anmerkungen zu einem Regelungsbereich. Ein besonde-res Augenmerk wurde auf das gleichzeitig schwierigste wie aktuell(st)e Thema des Pfle-gekinderbereichs gelegt, die Gestaltung von persönlichen Kontakten der Herkunftsfamilie zu dem untergebrachten Pflegekind und den Pflegeeltern sowie auf die Arbeit bei einer Rückführungsoption. Wie schon erwähnt, handelt es sich bei den Abschnitten dieses Teils weniger um „harte" Empfehlungen, als mehr um eine Anregung an die Leserinnen und Leser, sich mit den vorgeschlagenen Qualitätsstandards auseinanderzusetzen und sie für die eigene Arbeit fruchtbar zu machen.

Der Anhang  zu den Empfehlungen bietet einen Überblick zum Recht des Pflegekinder-wesens, einen systematischen Überblick zur Literatur sowie das Verzeichnis der benutz-ten Literatur. Zur benutzten Literatur ist anzumerken, dass sie eher den Hintergrund für die im Kern praxisorientierten Diskussionen innerhalb der Projektgruppe bildete, als dass es eine systematische Literaturauswertung gegeben hätte. In den Texten wurde deshalb – mit Ausnahme von Passagen, die unmittelbar auf eine bestimmte Literaturquelle Bezug nehmen –, auf Literaturverweise verzichtet.

 

0.3 Anmerkungen und Hinweise zur Benutzung der Empfehlungen

Die Empfehlungen sind klar auf die Arbeit der Pflegekinderdienste bezogen. Arbeiten, die von anderen Sachgebieten (z. B. dem Allgemeinen Sozialdienst) ausgeführt werden müs-sen, werden hier nur angerissen. Insgesamt wird von vielen Kooperationen mit unter-schiedlichen Kooperationspartnern ausgegangen, die ein wichtiges Feld in der Arbeit der Pflegekinderdienste darstellen.

Den Verfasserinnen und Verfassern ist bewusst, dass sich die Arbeit in kleinen und grö-ßeren Jugendamtsbezirken nicht ohne weiteres „über einen Kamm scheren" lässt. Was für große Jugendamtsbezirke innerhalb des Jugendamts lösbar ist, lässt sich in kleinen Jugendamtsbezirken manchmal nur in Kooperation mit benachbarten Jugendämtern oder mit freien Trägern der Jugendhilfe lösen. Die Anregung, nach solchen Kooperationen zu suchen, ist – auch wenn nicht in jedem Kapitel erwähnt – Teil des in diesen Empfehlun-gen vorgeschlagenen Gesamtkonzepts für das niedersächsische Pflegekinderwesen.

Viele Textstellen sind als Kompromisse zu betrachten, die über intensive Diskussionen zustande gekommen sind und daher Anregungen zum Vorgehen in der Praxis darstellen. Ebenso existieren aber auch Stellen, die bewusst idealtypisch formuliert sind, um auf spe-ziell wichtige Vorgehensweisen hinzuweisen. In diesen Fällen dient das Ideal als Horizont, dem man unter den gegebenen Umständen so nahe wie möglich kommen sollte, den man aber – möglicherweise – nie ganz wird erreichen können. Schließlich finden sich im Text Passagen, die als „Baustelle" bezeichnet werden. Bei ihnen handelt es sich um Bereiche, die noch zu wenig erprobt sind, um sie bereits als Lösungsvorschlag vorstellen zu kön-nen. „Baustellen" verstehen sich deshalb als Anregung, sich hier und da auf Neues einzu-lassen, mit ihm Erfahrungen zu sammeln und anderen von den Erfahrungen zu berichten.

An vielen Stellen im Text wird klar, dass sich die Empfehlungen auf Kinder und Jugendli-che in einem bestimmten Alter und Entwicklungsstand beziehen – dies wird nicht an jeder Stelle immer wieder explizit genannt. Es wird davon ausgegangen, dass durch den be-handelnden Kontext diese Differenzierung auch ohne permanente Nennung erkennbar ist.

Zumeist wird im Text von Pflegeeltern statt – so der korrektere, aber sehr „technische" Begriff – von Pflegepersonen gesprochen. Gemeint sind natürlich immer auch allein er-ziehende Pflegemütter und ggf. Pflegeväter sowie Familien- bzw. Partnerschaftsmodelle außerhalb des traditionellen Familien- und Ehemodells.

Hier wie im gesamten Text wird für die Begriffe „Umgangskontakte" und „Besuchskontak-te" der Begriff „persönliche Kontakte" verwendet. Der Begriff „Besuchskontakte" ist kon-zeptionell zu eng gefasst, der Begriff „Umgangskontakte" verweist eher auf Regelungen für das Verhältnis von Kindern zu ihren geschiedenen oder getrennt lebenden Eltern.

Im Text werden an unterschiedlichen Stellen Abkürzungen und Symbole benutzt. Um die-se nicht immer wieder neu zu erläutern, sind sie in der Tabelle 1 zusammenfassend auf-geführt.

Tabelle 1: Liste der im Text verwendeten Abkürzungen und Symbole

 

Abkürzung

Bedeutung

PKD

Pflegekinderdienst

ASD

Allgemeiner Sozialdienst

HF

Herkunftsfamilie

PF

Pflegefamilie

PK

Pflegekind

PE

Pflegeeltern

JA

Jugendamt

LK

Landkreis

HP

Hilfeplan

HPG

Hilfeplangespräch

SGB

Sozialgesetzbuch

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

AGJÄ

Arbeitsgemeinschaft der Jugendämter Niedersachsen und Bremen

FBB

Familiäre Bereitschaftsbetreuung

BGW


Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege

DJI

Deutsches Jugendinstitut

DIJuF

Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V.

„Baustelle“