6. Gestaltung des Prozesses im Vorfeld der Pflege


 


 

In diesem Kapitel werden Vorschläge zum Vermittlungsprozess, zur Anbahnung und zum Beginn des Pflegeverhältnisses unterbreitet. Die Gestaltung des Prozesses im Vorfeld der Pflege ist insofern ein wichtiger Baustein, als sich hier das Gelingen eines Übergangs in die Vollzeitpflege entscheidet. Abbrüche von Pflegeverhältnissen ereignen sich häufig auch aufgrund einer unzureichend durchgeführten Vermittlung und Anbahnung.

6.1 Der Vermittlungsprozess

Der Vermittlungsprozess sollte so transparent wie möglich gestaltet werden. Alle Beteiligten sollten immer über das Gesamtgeschehen informiert sein. Insgesamt ist die nachfolgende Beschreibung des Vermittlungsprozesses in Teilen idealtypisch; nicht immer kann diesem Ideal entsprochen werden. Das Ziel sollte aber sein, ihm so nahe wie möglich zu kommen.

6.1.1 Vor der Vermittlung

Kinder und Jugendliche können über unterschiedliche Zugangswege in die Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII gelangen. Sie kommen – oft mit vorangegangenen ambulanten Familienhilfen – direkt aus der Herkunftsfamilie, in einigen Fällen direkt aus der Geburtsklinik, aus einer stationären Unterbringung, ggf. auch aus einer Mutter-Kind-Einrichtung, gelegentlich auch unmittelbar aus einer kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtung. Häufig, insbesondere nach einer akuten Kindeswohlgefährdung und einem vorläufigen familiengerichtlichen Beschluss, geht der Inpflegegabe eine Unterbringung in einer Bereitschaftspflegefamilie oder eine stationäre Notaufnahme voraus. Vielfach – aber nicht ganz unumstritten – wird auch dafür plädiert, einer Inpflegegabe grundsätzlich eine Unterbringung in einer Bereitschaftspflegefamilie oder eine stationäre Notunterbringung vorangehen zu lassen, um dem Kind Zeit für die Trauerbewältigung zu geben, einen Raum für eine neue Bindungsbereitschaft zu schaffen und wichtige Informationen über das Kind / den Jugendlichen aufgrund intensiver Beobachtung zu bekommen.

Es wird davon ausgegangen, dass in allen Fällen vor der Vermittlung eine Klärung stattgefunden hat, die auf Erkenntnisse zur Biografie des Kindes/Jugendlichen, über seine sozialen Beziehungen und Erfahrungen, zu psychischen Belastungen und physischen Beeinträchtigungen und zu seinen Bindungserfahrungen abhebt. Insofern wird ein diagnostischer Prozess vorausgesetzt, der erst die Basis für eine Vermittlung bietet. Unterbringungsformen im Zuge von Herausnahmen vor der auf Dauer angelegten Vollzeitpflege haben daher in der Regel weniger einen pädagogisch-erziehenden als einen diagnostisch-klärenden Auftrag. Dies gilt für stationäre Notaufnahmen ebenso wie für die Familiäre Bereitschaftsbetreuung bzw. Bereitschaftspflegen. Je besser und sicherer die Erkenntnisse über die zu vermittelnden Kinder/Jugendlichen sind, desto passgenauer kann die Pflegefamilie ausgesucht und desto besser kann sie vorbereitet werden.

Aus dem diagnostisch-klärenden Prozess sollten folgende Informationen an den PKD weitergegeben werden (nachfolgender Katalog kann auch als Checkliste für den ASD verwendet werden):[1]

  •   Ziele

›  Welche Ziele sollen mit der Inpflegegabe erreicht werden?

›  Welche zeitliche Perspektive wird verfolgt?

  •   Prognose (Einschätzungen zur Zielerreichung durch die Eltern)

›  Wie verlässlich zeigen sich die Eltern im Kontakt mit dem ASD und welche Erfahrungen mit der Kooperation gab es in der Vergangenheit?

›  Welche ambulanten und/oder stationären Hilfen wurden bereits versucht – mit welchem Erfolg?

›  Arbeiten die Eltern aktiv an der Erreichung der Ziele mit?

›  Bei Rückkehroption: Was muss sich ändern, damit das Kind / der Jugendliche wieder bei den Eltern leben kann?

  •   Hilfe/Maßnahmen zur Unterstützung der Eltern

›  Welche zusätzlichen Hilfen sind zur Unterstützung der Elternfamilie geplant/initiiert?

›  Wer wird mit der Begleitung der Eltern beauftragt?

  •   Kontakte

›  Sind persönliche Kontakte („Besuchskontakte“) – unter Beachtung familienrichterlicher Vorentscheidungen zur Umgangsregelung – geplant? Wenn ja, wie viele und mit welchem Ziel?

›  Durch wen sollen sie begleitet werden?

  • Haltung der Eltern und Anlass der Fremdplatzierung

›  Wie schildern die Eltern den Hilfebedarf?

›  Welche Wünsche/Befürchtungen verbinden sie mit der Inpflegegabe?

›  Aus welchem Anlass wurden die Herkunftseltern dem Jugendamt bekannt und was waren die Hintergründe?

  •   Biografie des Kindes/Jugendlichen

›  Gibt es wichtige Ereignisse im Leben des Kindes/Jugendlichen (z. B. Lebensortwech­sel, Verlust von Bezugspersonen, traumatische Situationen)?

›  Welche Leistungen wurden in der Vergangenheit für das Kind / den Jugendlichen erbracht (z. B. Frühförderung, Integrationshilfen, Schulpsychologische Dienste) und welche Fremdbetreuungsmaßnahmen gab es bislang (z. B. Tagespflege, Kita, frühere Inobhutnahmen)? Wie wurden diese Hilfen vom Kind angenommen und bewertet?

›  Liegen Untersuchungsberichte/Diagnosen zum Kind (mit welchem Inhalt) vor?

  •  Beschreibung des Kindes/Jugendlichen

›  Wie ist das Erscheinungsbild des Kindes?

›  Wie ist sein Sozialverhalten?

›  Gibt es schulische Besonderheiten, Besonderheiten in der vorschulischen Betreuung?

›  Wie ist sein Entwicklungsstand (körperlich, geistig, emotional, sozial, motorisch, sprachlich etc.)?

›  Welche Wünsche werden vom Kind/Jugendlichen geäußert? Welche Ängste vor einer Inpflegegabe / Trennung von den Eltern hat es artikuliert?

›  Was sind seine Stärken?

  •  Bindung und soziale Bezüge

›  Welche Bindung besteht zwischen den Herkunftseltern und dem Kind und welche Qualität hat sie (sicher, ambivalent, unsicher, abweisend etc.)?

›  Gibt es noch weitere Bindungen des Kindes an andere Personen innerhalb der Familie (Geschwister, Verwandte, früherer Partner der Mutter)? Wie bedeutsam sind sie für die weitere Entwicklung des Kindes/Jugendlichen?

›  Gibt es weitere bedeutsame Bindungen des Kindes an Personen außerhalb der Familie (Freunde, Lehrer)?

  •   Einschätzungen

›  Wie schnell muss eine Entscheidung getroffen werden?

›  Welche spezifischen Anforderungen werden an eine Pflegestelle für dieses spezielle Kind gestellt?

›  Gibt es weitere Absprachen (mit Institutionen oder den Eltern)?

  •   Rechtslage

›  Gibt es vormundschaftliche Beschlüsse?

›  Liegt ein Hilfeantrag vor?

›  Wer ist der Sorgerechtsinhaber?

  •  Zu ergreifende (Sofort-)Maßnahmen

›  Ist eine medizinische Abklärung notwendig?

›  Sind bestimmte Fördermaßnahmen/Therapien fortzuführen oder zu initiieren?

›  Welche Entscheidungen sind hinsichtlich Kita/Schule zu treffen?

Aufgrund dieser Informationen ist zu entscheiden, um welche Form der Vollzeitpflege es sich handeln soll: Allgemeine Vollzeitpflege, Sozialpädagogische Vollzeitpflege oder Sonderpädagogische Vollzeitpflege. Es ist zudem auf der Basis der Informationen zu klären, ob es sinnvoll und möglich ist, eine Verwandtenpflege einzurichten bzw. nach einer anderen milieunahen Pflegefamilie für das Kind / den Jugendlichen zu suchen bzw. einen entsprechenden Vorschlag der Herkunftsfamilie und/oder des Kindes/Jugendlichen in die Überlegungen einzubeziehen.



[1]    Siehe auch Kapitel 2.2.1 „Kooperationsmodelle“.

     Bei Gebrauch des Kategorienrasters (vgl. Anlage 1 zu Kap. 5) können die dadurch gesammelten Informationen hier genutzt werden – viele der präsentierten Fragen sind darin aufgehoben. Insgesamt spielt bei der Informationsbeschaffung und -aufbereitung der ASD eine nicht unerhebliche Rolle.


6.1.2 Allgemeine Kriterien der Vermittlung

Die Vermittlungsvorbereitung wie auch die weitere Anbahnung und der Beginn des Pflegeverhältnisses sind als Prozess zu betrachten, der an vielen Stellen unterschiedliche Entscheidungen verlangt. Wenn hier ein bestimmtes Vorgehen vorgeschlagen wird, so bedeutet das nicht, dass nicht auch andere Vorgehensweisen möglich sind. Die Wahl des Vorgehens bemisst sich immer an den spezifischen Notwendigkeiten und Bedürfnissen des Kindes/Jugendlichen.

Der Vermittlungsprozess ist auf das Finden der „richtigen“ Pflegeeltern für das Kind / den Jugendlichen konzentriert. In ihn fließen die Informationen und die Erkenntnisse aus der Anamnese/Diagnose ein. Der Vermittlungsprozess endet mit Beginn der Inpflegegabe.

a) Pflegekind: Über das Pflegekind liegen über den Anamneseprozess vielfältige Informationen vor, die eine Beurteilung des erzieherischen Bedarfs zulassen. Der PKD sucht auf der Basis dieser Informationen das Pflegekind an seinem aktuellen Unterbringungsort auf, lernt es kennen und erläutert die Aufgabe des PKD, eine verlässliche Unterbringung auf längere Zeit zu suchen. Es muss dabei auch deutlich werden, dass die Wünsche des Kindes Berücksichtigung finden, es z. B. nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist, in Fällen, in denen das Vertrauen in die zukünftigen Pflegeeltern nicht gegeben ist, ein deutliches „Nein“ zu sagen. Alters- und problemabhängig ist dem Kind zu erklären, was in der Folgezeit geschieht, z. B. wie nach einer geeigneten Familie für das Kind gesucht wird und wie der Kontakt zu seinen Eltern gehalten wird, wobei auch die beteiligten Personen zu benennen sind. Von Bedeutung ist es, dem Kind zu verdeutlichen, was ihm bei einer Inpflegegabe erhalten bleibt und was sich künftig verändern wird. Eingegangen werden sollte dabei auf:

w  die Kontakte zu den bisherigen Bezugspersonen,

w  den Besuch von Kindergarten und Schule,

w  die Weiterführung von begonnenen Therapien.

b) Herkunftseltern: Die Herkunftseltern sind – soweit vorhanden/erreichbar und keine Gründe für einen (vorübergehenden) Ausschluss vorliegen – von Beginn an in den Vermittlungsprozess einzubeziehen. Entsprechend muss der PKD die Herkunftseltern möglichst frühzeitig kennen lernen. Es wird empfohlen, hiermit bereits im Zuge der Herausnahme des Kindes zu beginnen – soweit der PKD schon zu diesem Zeitpunkt vom ASD hinzugezogen wurde (vgl. Kap. 2.1.2). Das Kennenlernen dient dem Aufbau eines Vertrauensverhältnisses sowie der Information der Herkunftsfamilie über die Aufgaben des PKD. Ziel muss es sein, in weiteren Kontakten eine gemeinsame, tragfähige Position zum Wohl des Kindes zu erarbeiten. Wichtige Elemente sind dabei ein ehrlicher Umgang mit den Eltern, das Schaffen von Transparenz bezüglich der eigenen Vorgehensweise und die klare Benennung der Ziele bzw. der Verfahren zu ihrer Erarbeitung. Die Herkunftseltern sind darüber aufzuklären, dass ihr Kind während der Inpflegegabe Bindungen an die Pflegeeltern aufbauen und dass dies Auswirkungen auf die Beziehung des Kindes zu ihnen haben wird. Ebenso muss über die Möglichkeit und die Bedingung einer Rückführung gesprochen werden bzw. verdeutlicht werden, dass aus zu benennenden Gründen eine Rückführung eher unwahrscheinlich (oder ausgeschlossen) ist. Unrealistische Hoffnungen dürfen nicht geweckt werden.

Je besser die Herkunftseltern das Pflegeverhältnis unterstützen und Einsicht in die Notwendigkeit dieser Hilfe zeigen, desto eher sind die Pflegekinder in der Lage, die neue Situation anzunehmen und Perspektiven für sich zu entwickeln. Ziel bei einer auf Dauer angelegten Pflege sollte die „Freigabe“ der Kinder durch die Herkunftsfamilie sein bzw. die temporäre „Freigabe“ bei Aufrechterhaltung der Rückkehroption.

Soweit es keine grundsätzlichen Bedenken gibt, sollten die Herkunftseltern die künftigen Pflegeeltern und den Vormund treffen, bevor ein Kontakt zwischen den Bewerberinnen/ Bewerbern und dem Kind stattgefunden hat. Das Treffen muss vom PKD und ASD begleitet werden und sollte an einem neutralen Ort stattfinden. Hier können in Anwesenheit und unter der Moderation des PKD/ASD wichtige Fragen geklärt, gegenseitige Erwartungen formuliert, Wünsche artikuliert, Befürchtungen ausgeräumt und weitere Kontakte vereinbart werden. Es geht auch hier um den Aufbau von Vertrauen und den Abbau von Ängsten durch maximale Transparenz.

c) Pflegeeltern: Auf der Basis der Informationen über das Kind sind die Pflegeeltern auszuwählen bzw. entsprechende Pflegeeltern zu suchen und zu überprüfen, soweit im „Bestand“ keine passenden Bewerberinnen und Bewerber vorhanden sind. Im Anschluss daran sind die zukünftigen Pflegeeltern über das Kind, seinen Hintergrund und die Herkunftseltern zu informieren. Diese Informationen sollten so ausführlich sein, dass sie den Pflegeeltern eine realistische Einschätzung darüber erlauben, was auf sie zukommt und welche Konsequenzen die Aufnahme des Kindes für sie und andere Familienmitglieder, insbesondere auch die eigenen Kinder, haben kann. Die Informationen sollten beinhalten:

w  die Gründe der Inpflegegabe,

w  die Biografie des Kindes, insbesondere erlebte Beziehungsabbrüche,

w  die häuslichen Verhältnisse,

w  die Geschwister des Kindes, ggf. ihr Lebensort,

w  Verhaltensbesonderheiten des Kindes und mit ihnen verbundene Anforderungen an die Pflegefamilie,

w  die Ergebnisse des anamnestischen/diagnostischen Prozesses,

w  die Qualität der Bindungen an die Herkunftsfamilie oder andere Bezugspersonen und Geschwister,

w  die rechtliche Situation des Kindes/Jugendlichen,

w  Wünsche der Bezugspersonen und des Kindes/Jugendlichen bezüglich der Ausgestaltung der Dauerpflege,

w  die voraussichtliche Perspektive des Pflegeverhältnisses.

Die Pflegefamilie sollte Zeit zur ersten vorläufigen Entscheidung bekommen. Möglicherweise ist hier noch Unterstützungsarbeit seitens des PKD zu leisten. Kommt die zukünftige Pflegefamilie zu einer positiven Entscheidung, kann ein (oder können mehrere) Treffen mit der Herkunftsfamilie stattfinden (s. o.). Bei der Perspektive der Wahrnehmung von Besuchsrechten ist es von großer Bedeutung, dass eine gegenseitige Akzeptanz zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern geschaffen werden kann, um Belastungen durch ungeklärte Vorbehalte zu vermeiden und den Erfolg der Hilfe für das Kind nicht zu gefährden. Haben die Pflegeeltern massive Vorbehalte gegen die vorgesehenen persönlichen Kontakte der Eltern zum Kind, sollte von der Vermittlung des Kindes in diese Familie Abstand genommen werden.

Es muss der Pflegefamilie verdeutlicht werden, dass eine negative Entscheidung zu jedem Zeitpunkt möglich ist und nicht zu einer Benachteiligung für eine andere Inpflegegabe führt. Vielmehr muss deutlich werden, dass es für das Pflegeverhältnis wesentlich besser ist, frühzeitig etwaige Befürchtungen zu äußern als das Verhältnis mit einem unguten Gefühl zu beginnen.


6.2 Die Anbahnung des Pflegeverhältnisses

Zu den Besonderheiten von Pflegeverhältnissen gehört, dass über sie eine enge persönliche, in vielen Fällen langjährige Beziehung zwischen sich zunächst fremden Kindern und Pflegeeltern konstituiert wird. Gerade hierin liegen besondere Chancen für die (Nach-) Entwicklung von Kindern. Umso wichtiger ist es, den Annäherungsprozess von Pflegekindern an die Pflegefamilie sorgfältig zu planen und zu begleiten und prozesshaft zu gestalten.

a)  Zweck der Anbahnung

Nachdem viele Informationen gesammelt und erste Gespräche geführt wurden, dient der Anbahnungsprozess dazu, die getroffenen Vorentscheidungen zu bestätigen oder zu widerrufen. Dieser Prozess benötigt Zeit. Erst wenn alle Beteiligten davon überzeugt sind, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist, kann ein Übergang in die Pflegefamilie stattfinden. Das heißt, die Kinder müssen bereit sein, sich auf die Pflegefamilie einzulassen, die Pflegeeltern müssen bereit sein, das Kind so anzunehmen, wie es ist, die Herkunftseltern sollten der Pflege zugestimmt haben und die Pflegefamilie jedenfalls grundsätzlich akzeptieren, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des PKD sollten den Eindruck gewonnen haben, dass mit dieser Entscheidung dem individuellen Wohl des Kindes am besten gedient ist. Die Anbahnung ist insoweit eine Prüfungs- und Kennenlernzeit mit offenem Ausgang. Wichtigste Aufgabe des PKD ist es, Voraussetzungen für einen ehrlichen Umgang der beteiligten Personen zu schaffen und die Möglichkeiten hinsichtlich wechselseitiger Kooperation und eines gelingenden Zusammenlebens von Kind und Pflegeeltern zu erkunden.

b) Erster Kontakt zwischen Kind/Jugendlichem und den Pflegeeltern

Nachdem die zukünftigen Pflegeeltern die Herkunftseltern kennen gelernt haben und über viele Informationen über das Pflegekind verfügen, kommt es zu einem ersten Kontakt zum Pflegekind.

Auch wenn in bestimmten Fällen immer von einer Regel abgewichen werden kann, so hat sich in der Fachdiskussion die Meinung herausgebildet, dass die ersten Treffen zwischen dem Kind und den zukünftigen Pflegeeltern auf neutralem Boden stattfinden sollten. Dies kann ein Spielzimmer in einer Institution sein, es kann aber auch während eines Spazierganges geschehen oder im Rahmen eines gemeinsamen Besuchs einer Veranstaltung (z. B. Zoo, Spielplatz). Es wird von Praktikern auch befürwortet, den ersten Kontakt – in Abhängigkeit von Alter und Entwicklungsstand des Kindes – nicht als Kontaktaufnahme zu den zukünftigen Pflegeeltern erscheinen zu lassen, sondern es als „zufällige“ Begegnung zu organisieren (aber Vorsicht: Kinder haben „feine Antennen“). Dadurch soll der Druck auf alle Seiten vermieden werden. Wo immer und wie immer der Kontakt zustande kommt, in jedem Fall muss die Fachkraft des PKD, die das Kind bereits kennt, bei der Begegnung anwesend sein.

c)  Ausdehnung der Besuche bei den Pflegeeltern

Nach den ersten Kontakten ist eine Ausdehnung der Besuche sinnvoll. Hier sind gemeinsam verbrachte Wochenenden und/oder erste Übernachtungen in der Pflegefamilie sinnvoll. Insbesondere müssen dabei auch Reaktionen weiterer Familienmitglieder durch den PKD beobachtet werden. Noch in der Familie lebende Kinder oder andere Personen müssen ebenso ihr Einverständnis zur Aufnahme des Kindes geben wie die Pflegeeltern selbst. Entsprechend intensiv sollte dieser Prozess der Annäherung vom PKD begleitet werden.

d) Entscheidungsfindung aufseiten der Pflegeeltern

Die ersten Besuche des Pflegekindes in der Pflegefamilie sollten Rückkoppelungsschleifen enthalten, in denen eine Reflexion möglich ist und eine tragfähige Entscheidung erarbeitet werden kann. Insbesondere sollten die zukünftigen Pflegeeltern sich über ihre Gefühle zum Kind sowie über die Konsequenzen der Aufnahme für die familiäre Dynamik klar werden. In der Diskussion zwischen Pflegeeltern und PKD kann die Beantwortung folgender Fragen durch die Pflegeeltern für die Entscheidungsfindung hilfreich sein:

  • Wie sind die Gespräche und Kontakte verlaufen?
  • Wie reagieren die in der Pflegefamilie lebenden Kinder? Welche Vorstellungen haben die Pflegeeltern hinsichtlich des Beziehungsaufbaus?
  • Welche Gefühle haben sie dem Kind gegenüber?
  • Wie kommen sie mit dem Kind zurecht? Welche Verhaltensweisen des Kindes irritieren sie?
  • Wie sind die ersten Reaktionen der Verwandten und Nachbarn auf das Kind?
  • Welche Hilfen wünschen und erwarten sie?
  • Zu welchen Themen besteht noch weiterer Informationsbedarf?

Die Antworten auf diese Fragen haben nicht nur Bedeutung für die Entscheidungsfindung der Pflegeeltern, sie besitzen ebenso Gewicht für die Bewertung der Inpflegegabe durch den PKD.

e)  Einbeziehen der Herkunftsfamilie

Die Herkunftseltern sollten in den Prozess der Anbahnung einbezogen sein – soweit dies wegen besonderer Gründe nicht auszuschließen ist. Je nach Kooperationsbereitschaft kann die Einbeziehung durch Weitergabe von Informationen erfolgen oder durch direkte Teilhabe in Form von Kontakten zwischen Herkunfts- und Pflegefamilie. Wo immer möglich, sind direkte Kontakte von Pflegepersonen und der Herkunftsfamilie als eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme anzustreben. In diesem Zusammenhang sind auch die Art und der Umfang von Besuchskontakten zu thematisieren und zwischen den beiden Familien abzusprechen.

f)  Entscheidungsfindung aufseiten des Pflegekindes

Ebenso wie die Pflegefamilie muss auch das Pflegekind für sich eine Entscheidung treffen dürfen. Auch wenn der Einbezug des Kindes vom Alter und Entwicklungsstand abhängig ist, so ist hierauf großen Wert zu legen. Dem Kind muss verdeutlicht werden, dass es „nein“ sagen kann und die Ablehnung der Pflegeeltern kein Drama, sondern ein durchaus nachvollziehbarer Vorgang ist. Allerdings sollte der PKD auch darauf achten, dass eine Entscheidung des Kindes nicht zu spontan erfolgt und die notwendige Zeit zum Kennenlernen zur Verfügung steht.

g) Transparenz nach allen Seiten, Vermeidung von Brüchen

In der Anbahnungsphase ist es wichtig, so viel Transparenz wie möglich herzustellen. Dies bezieht sich auf die Pflegefamilie ebenso wie auf die Herkunftsfamilie und das Pflegekind. Zu jedem Zeitpunkt sollten alle Beteiligten über den aktuellen „Stand der Dinge“ informiert sein. Dabei sollten auch unangenehme Themen nicht ausgeklammert oder beschönigend dargestellt werden. Dies gilt für die Folgen der „Verabschiedung“ des Kindes auf der Seite der Herkunftsfamilie wie auch für die mögliche Offenhaltung einer Rückkehr­option aufseiten der Pflegefamilie. Nur bei maximaler Transparenz kann späteren Enttäuschungen vorgebeugt werden.

Inwieweit für die Begleitung der Herkunftsfamilie der ASD oder ein freier Träger einbezogen werden kann und soll, ist jugendamtsspezifisch zu klären. Dies kann über Kooperationsvereinbarungen zwischen den Sachgebieten geregelt werden (vgl. Kap. 2.1.2).

Der Prozess der Anbahnung sollte von dem Gedanken des Vermeidens von Brüchen, d. h. der Vermeidung von vielen Wechseln, geleitet sein. Unter dieser Perspektive gilt es nicht nur, die Anbahnung sorgfältig vorzubereiten und zu begleiten, sondern auch, sie abzubrechen, wenn die Lösung nicht als wirklich tragfähig empfunden wird. Eine frühzeitige Entscheidung gegen die Inpflegegabe ist für alle Seiten weniger schmerzhaft als die spätere Herausnahme des Kindes aus der Familie, weil es doch nicht „geklappt“ hat.

h) Verwandtenpflege / Social Network Care

Für den Bereich der Verwandtenpflege und des Social Network Care haben diese Hinweise in der Regel keine Bedeutung. Das Kind kennt die zukünftigen Verwandtenpflegeeltern, sodass hier das Kennenlernen entfällt. In diesem Bereich ist es in der Anfangsphase des Pflegeverhältnisses entscheidender, die Kooperationsbereitschaft der Verwandten bzw. Bekannten mit dem PKD zu eruieren und besondere Hilfebedarfe für das Kind bzw. Unterstützungsnotwendigkeit für die zukünftige Pflegefamilie zu erkunden.

i)   Vollzeitpflege für unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche

Von zentraler Bedeutung für eine gute Anbahnung und für den weiteren Verlauf der Unterbringung ist eine möglichst gute Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen und der Gastfamilien im Vorfeld. Hier ist besonders auf die Entwicklung der Sprachkompetenz und die Vermittlung von Informationen über westliche kulturelle Gegebenheiten, Verhaltensweisen, Essgewohnheiten und die Säkularität des Staates zu achten.

Auch wenn für die Anbahnungszeit in der Regel nicht so viel Zeit zur Verfügung steht, ist es unbedingt notwendig, ein gutes Kennenlernen von Pflegefamilie und Kind/Jugendli­chem zu organisieren. Es sollte von vier bis sechs Wochen ausgegangen werden, in denen beide „Parteien“ Informationen voneinander sammeln.

Häufig gibt es ein Informationsdefizit, da man nicht viele Informationen über das Kind / den Jugendlichen hat. Hier sollte entsprechendes Wissen, z. B. in der Akutversorgung bzw. Erstaufnahmestelle, gesammelt werden. Dies kann über einen Profilbogen in Form einer Kurzzusammenfassung erfolgen.

Da die Kinder/Jugendlichen noch leibliche Eltern haben, die aber häufig noch im Herkunftsland oder bereits auf der Flucht sind, ist es für die Minderjährigen nicht leicht, sich nun einer anderen Familie anzuschließen. In der Regel besteht eine Kommunikation mit den Eltern über Handy, soziale Medien oder Skype, und es ist von Vorteil, wenn von den Kindern/Jugendlichen um die Erlaubnis zur Unterbringung in einer für sie fremden Familie nachgefragt wird. Die Erteilung der Erlaubnis durch die Eltern begünstigt die Aufnahme und den weiteren Verlauf des Pflegeverhältnisses.

6.3 Der Beginn des Pflegeverhältnisses

Auch der Gestaltung der Eingangsphase eines Pflegeverhältnisses kommt eine große Bedeutung zu. In ihr werden nicht nur die Weichen für eine gelingende Integration des Kindes in seine Pflegefamilie gestellt, sondern auch Weichen für die Kooperation zwischen Herkunftsfamilie und Pflegefamilie und nicht zuletzt auch für die Zusammenarbeit der Beteiligten mit dem Pflegekinderdienst.

a)  Zeitpunkt des Wechsels

Ist die Anbahnungsphase abgeschlossen, kann der Übergang vollzogen werden. Dabei sind alle Personen über den Termin zu informieren. Es ist sicherzustellen, dass den Pflegeeltern alle erforderlichen Unterlagen ausgehändigt werden (Ausweise, Untersuchungsheft, Versicherungskarte, Vollmachten etc.).

Das Kind sollte von einer vertrauten Person in die Pflegefamilie begleitet werden. Auch sollte das Kind Zeit haben, sich von der alten Umgebung (Gruppe im Heim, Bereitschaftspflegeeltern usw.) zu verabschieden.


b) Hilfeplan

Im Vorfeld der Inpflegegabe wurde vom ASD in Zusammenarbeit mit dem PKD und weiteren beteiligten Personen der Hilfeplan erstellt. Er legt fest, welche Ziele mit der Hilfe erreicht werden sollen. Da der Hilfeplan einen Rechtsakt darstellt, muss er vor Beginn der Hilfe formal übergeben werden, da nun die Arbeit an den vereinbarten Zielen beginnt. Da aber eine weitergehende Konkretisierung der Ausgestaltung der Hilfe erst nach einer gewissen Zeit des Aufenthaltes des Kindes in der Pflegefamilie vorgenommen werden kann, sollte es auch möglich sein, den ersten vollständigen Hilfeplan nach etwa einem Vierteljahr vorzulegen (vgl. auch Kap. 5.1).

c)  Begleitung und Beratung in den ersten Monaten

Der Gestaltung der ersten Phase des Pflegeverhältnisses kommt eine hohe Bedeutung für den weiteren Verlauf zu. Die Pflegeeltern und die weiteren in der Pflegefamilie lebenden Personen werden erstmals mit den konkreten Alltagsproblemen konfrontiert. Vielfach erleben die Pflegeeltern erst jetzt das Kind „wie es ist“, werden mit nicht erwarteten Verhaltensbesonderheiten des Kindes konfrontiert und erleben erst jetzt, dass die Familiendynamik in höherem Maße als erwartet von der Aufnahme des Kindes beeinflusst wird. Auch für die Pflegekinder ist mit dem Wechsel in eine zunächst noch fremde Familie eine hohe Belastung verbunden. Die Auseinandersetzung mit der Inpflegegabe, mit Ambivalenzen und Schuldgefühlen, aber auch die Notwendigkeit, in der Pflegefamilie erst einen eigenen Ort zu finden, ist belastend und anstrengend. Und schließlich: für die Herkunftsfamilie verdeutlichen sich die sozialen und psychologischen Konsequenzen der „Abgabe“ häufig erst jetzt.

Alle Beteiligten bedürfen in der ersten Phase des Pflegeverhältnisses darum einer verlässlichen Beratung und Unterstützung. Mit den Pflegeeltern und den weiteren Mitgliedern der Pflegefamilie sollte ein intensiver Kontakt gehalten werden, wobei der Erreichbarkeit des betreuenden Dienstes eine hohe Bedeutung zukommt. Für ältere Kinder und Jugendliche in der Pflegefamilie sollte die Möglichkeit geschaffen werden, sich unabhängig von der Zustimmung der Pflegeeltern beraten zu lassen. Für die Herkunftsfamilie empfiehlt sich, ihr eine Fachkraft/Institution zu benennen, mit der Sorgen und Beschwerden reflektiert werden können (hinsichtlich der Aufteilung der Arbeiten in und mit der Herkunftsfamilie kann eine Kooperation mit dem ASD geschlossen werden, vgl. Kap. 2.1.2).

Neben den Problemen in der Pflege- und der Herkunftsfamilie können auch Reaktionen in der für das Kind bedeutenden Umwelt auftreten. Vor allem Nachbarschaften, Kindertagesstätten und Schulen bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit, um einer sich ggf. einschleifenden Ausgrenzung und Isolation des Kindes vorzubeugen.

Diese Phase ist mit einer erheblichen zeitlichen Belastung der zuständigen Fachkraft im PKD verbunden. Dies ist bei einer Fallbemessung zu berücksichtigen (vgl. Kap. 4.4).


d) Kontakte der Herkunftsfamilie zum Kind in der ersten Zeit

Ob es einen persönlichen Kontakt der Herkunftsfamilie zum Kind in der ersten Zeit in der neuen Pflegefamilie geben soll oder nicht, wird fachlich kontrovers diskutiert. Es wird hier davon ausgegangen, dass es keinen Automatismus in der einen oder anderen Richtung geben darf. Vielmehr müssen die Erfordernisse des Einzelfalls die Frage nach persönlichen Kontakten leiten. Dies trifft auch auf die Art und den Ort der Kontakte zu, wenn die Bewertung der Situation zu einer grundsätzlichen Entscheidung zur Einrichtung von Kontakten geführt hat. Ein persönlicher Kontakt („Besuchskontakt“) sollte immer dann ermöglicht werden, wenn keine Tatsachen dagegen sprechen.

e) Weitere diagnostische Abklärungen

Es ist wahrscheinlich, dass sich in der ersten Phase der Fremdplatzierung noch weitere Hilfebedarfe für das Pflegekind herauskristallisieren, die auch in der Hilfeplanung noch nicht erkennbar waren. Um Verfestigungen und Enttäuschungsreaktionen von Pflegeeltern zu vermeiden, sollten möglichst zeitnah notwendige diagnostische Abklärungen vorgenommen und bei Bedarf medizinische, pädagogische und therapeutische Fördermaßnahmen eingeleitet werden. Dazu kann die Einbindung außen stehender Stellen (Kinderärzte, Psychologen etc.) notwendig sein. Für die Pflegeeltern ist auch die Möglichkeit einer Supervision vorzusehen.


[1]    Siehe auch Kapitel 2.2.1 „Kooperationsmodelle“.

Bei Gebrauch des Kategorienrasters (vgl. Anlage 1 zu Kap. 5) können die dadurch gesammelten Informationen hier genutzt werden – viele der präsentierten Fragen sind darin aufgehoben. Insgesamt spielt bei der Informationsbeschaffung und -aufbereitung der ASD eine nicht unerhebliche Rolle.