4.1 Soziologie des Erwachsenwerdens im 21. Jahrhundert
Im Alltagsdenken ist fest verankert, dass der Mensch eine Reihe an festen und unhinterfragbaren Phasen im Leben durchläuft. So sprechen wir von Phasen der frühen Kindheit, der Kindheit, der Jugend, des Erwachsenseins oder der Phase des Alters. All diese unterschiedlichen Phasen haben vermeintlich spezifische Eigenschaften und Charakteristika. Jugendliche, so könnte man meinen, sind inmitten ihrer Entwicklung. Die Veränderungen des Körpers und der Hormone führen oftmals zu emotionalen Verwirrungen und dazu, dass Jugendliche mit sich selbst, mit ihren Bedürfnissen und Gefühlen in einer Weise beschäftigt sind, dass sie häufig kaum mehr vernünftig ansprechbar sind. Darüber hinaus wird wohlmeinend darauf hingewiesen, dass den heutigen Jugendlichen ziemlich viel zugemutet würde, etwa in Form des schulischen Leistungsdrucks, Scheidungen der Eltern oder andere zerrüttete Familienkonstellationen, die leichte Zugänglichkeit zu Gewalt- und Pornografiedarstellungen oder die immer häufigere Auseinandersetzung mit Themen wie Armut und Arbeitslosigkeit (vgl. Scherr 2009, S. 15).
Im Unterschied zu diesem alltags sprachlichen Verständnis von Jugend ist wissenschaftliche Jugendforschung auf eine Klärung ihres Grundbegriffs angewiesen. Hierfür ist es nicht ausreichend, die Jugendphase als ein reines biologisches und psychisches Entwicklungsstadium zu fassen, wie es eben im Alltagsdenken gang und gäbe ist. Die soziologische Auseinandersetzung zielt vielmehr darauf ab, Jugend als Lebenslage und Lebensphase hinsichtlich gesellschaftlicher Bedingungen des Heranwachsens in den Fokus zu rücken und festzuhalten, wer dieser Lebensphase zugeordnet werden soll und von welchen Annahmen und Eigenschaften der Lebenssituation Jugendlicher und der Lebensphase Jugend ausgegangen werden muss (vgl. Scherr 2009, S. 17f.).
Die soziologische Jugendforschung interessiert sich in diesem groben Rahmen insbesondere für: „(1) Jugend als eine Lebensphase im Kontext der gesellschaftlichen Ordnung der Altersgruppen, durch die Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unterschiedliche Rechte und Pflichten zugewiesen, Möglichkeiten eröffnet und Zwänge auferlegt werden; (2) die Auswirkungen der gesellschaftlichen (ökonomischen, politischen, rechtlichen usw.) Bedingungen auf Jugend als Lebenslage und Lebensphase […]“ (Scherr 2009, S. 18).
Für eine Annäherung an den Jugendbegriff sind aus soziologischer Perspektive folgende Gesichtspunkte von Bedeutung. (1) Zunächst wird Jugend nicht als Naturphänomen, sondern als gesellschaftliches Faktum verstanden. Die Abgrenzungen und signifikanten Verschiedenheiten von Kindheit und Jugendphase bzw. Jugend und Erwachsenenleben können nicht als unmittelbare Folge biologischer und psychischer Entwicklungsprozesse verstanden werden. Viel mehr sind sie Ausdruck „darauf bezogener sozialer Festlegungen, die sich in der gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung verändern“ (Scherr 2009, S. 21). (2) Die Entstehung von Jugend schließt die gesellschaftliche Anerkennung eines Moratoriums mit ein. Hierfür ist ein Verständnis von Jugend als Entwicklungsstadium von Bedeutung, welches durch intensive Identitätssuche charakterisiert ist, in dem Fragen nach den eigenen Überzeugungen oder der anzustrebenden beruflichen und familiären Lebensführung aufgeworfen werden (vgl. Scherr 2009, S. 22). (3) Dieser Ansicht stehen ältere soziologische Studien gegenüber, die die Jugendphase als eine Transitionsphase, also als Phase des Übergangs verstehen, die typischerweise in der ersten Hälfte des zweiten Lebensjahrzehnts beginnt und mit der Gründung einer eigenen Familie und der Aufnahme einer eigenen Erwerbstätigkeit endet. In der heutigen Zeit sind jedoch für eine erhebliche Anzahl der heranwachsenden jungen Menschen die Ausbildungszeiten keineswegs vor dem 25. Lebensjahr abgeschlossen. Auch die Heiratszeitpunkte verlagern sich immer weiter nach hinten. Daraus kann geschlossen werden, dass die Lebensphase Jugend als gesellschaftlich institutionalisierte Phase des schulischen und berufsbildenden Lernens deutlich nach der Beendigung der psychosexuellen und körperlichen Entwicklungsphase endet (vgl. Scherr 2009, S. 22). (4) Der Übertritt aus der Phase der Jugend in den Erwachsenenstatus ist nicht mehr durch ein typisches Merkmal verbunden, vielmehr lassen sich eine Fülle an heterogenen Übergängen beobachten, die zeitlich auseinander liegen. Hierunter fällt exemplarisch das Ende der Pubertät, die Beendigung der schulischen und beruflichen Erstausbildung, eine Rechtsmündigkeit, die Abkapselung und ökonomische Emanzipation von der Herkunftsfamilie oder etwa die Gründung und Durchführung eines selbstständigen Haushalts (vgl. Scherr 2009, S. 22).
Unter einer heutigen soziologischen Betrachtungsweise ist das eher traditionelle Bild von Jugend, als eine zeitlich abgegrenzte Lebensphase mit festen Eigenschaften, die mit dem Einsetzen der Pubertät beginnt und mit dem Eintritt in den ersten Arbeitsmarkt und der Festlegung auf einen beruflichen und privaten Lebensentwurf erdet, unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Forschungsergebnissen, häufig nicht mehr angemessen. Es kann kein universaler singulärer Zeitpunkt oder soziales Ereignis ausgemacht werden, mit dem das Ende der Jugendphase eingeläutet wird. Darüber hinaus sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass Verhaltensweisen und Problemstellungen, die schon seit jeher als jugendtypisch gelten, beispielsweise die Identitätssuche, sich nicht eindeutig mehr nur auf die Jugendphase eingrenzen lassen (vgl. Scherr 2009, S. 23).
Abbildung 1
Vor diesem gesamten Hintergrund kann eine soziologische Definition des Jugendbegriffs folgendermaßen artikuliert werden. „Jugend ist eine gesellschaftlich institutionalisierte und intern differenzierte Lebensphase, deren Abgrenzung und Ausdehnung sowie deren Verlauf und Ausprägung wesentlich durch soziale (sozialstrukturelle, ökonomische, politische, kulturelle, rechtliche, institutionelle) Bedingungen und Einflüsse bestimmt ist. Jugend ist keine homogene Lebenslage oder Sozialgruppe, sondern umfasst unterschiedliche, historische, veränderliche, sozial ungleiche und geschlechtsbezogen differenzierte Jugenden. Grundlegend für moderne Jugend ist eine in sich komplexe und widersprüchliche Konstellation von ökonomischer und sozialer Abhängigkeit, eingeschränkten Rechten, pädagogischer Einwirkung und Qualifizierungszwängen einerseits, gesellschaftlich ermöglichten Freiräumen für die Persönlichkeitsentwicklung und das Leben in Gleichaltrigengruppen andererseits. Jugend ist eine befristete Übergangszeit und eine Phase der sozialen Platzierung, in der für die künftige soziale Stellung als Erwachsener bedeutsame Weichenstellungen erfolgen […]“ (Scherr 2009, S. 24f.).
4.1.1 Ausdehnung der Jugendphase
Aufgrund einer zunehmenden Beobachtung der Vorverlagerung der Pubertät einerseits, der Verlängerung der Ausbildungszeiten und die damit einhergehende Verschiebung des Zeitpunktes einer ökonomischen Unabhängigkeit andererseits, ist in der sozialwissenschaftlichen Diskussion eine Sichtweise in den Vordergrund gerückt, die Jugend als eine zeitlich ausgedehnte Lebenslage begreift, die weder mit dem biologischen und psychodynamischen Erwachsenwerden noch mit der vollen Rechtsmündigkeit abgeschlossen erscheint. Hierbei sollten jedoch die enorm heterogenen Altersgruppenunterschiede, die eine solche Definition des Jugendbegriffs mit sich bringen nicht außer Acht gelassen werden und umschrieben werden. Die Frage etwa, worin die Gemeinsamkeiten einer 15-jährigen Schülerin mit einem 24-jährigen Studenten bestehen, außer der möglichen Gegebenheit, dass sich beide in einer Ausbildung befinden, ist schwierig zu beantworten. Aus diesem Anlass erscheint es sinnreich innerhalb der Lebensphase Jugend weitere Unterscheidungen vorzunehmen. Albert Scherr differenziert die Jugendphase (1) in eine pubertäre Phase (ca. 12-18), Jugendliche im eigentlichen Sinn, (2) in eine nachpubertäre Phase (ca. 19-21), die Heranwachsenden, (3) und die Phase nach Erreichen der vollen Rechtsmündigkeit bis zur Beendigung der Erstausbildung (21 bis ca. Ende der zweiten Lebensdekade), die jungen Erwachsenen (vgl. Scherr 2009, S. 28).
Wie bereits angedeutet, ist die Ablösung von der Herkunftsfamilie ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Erwachsenenleben. Darunter kann beispielsweise auch der Auszug aus dem Elternhaus gezählt werden. Die Ablösung von den eigenen Eltern und die damit verbundene Eigenständigkeit der Jugendlichen wird durch diese Entscheidung manifestiert. Dabei kann jedoch ein sozialer Wandel festgestellt werden. Noch nie sind Jugendliche so spät aus ihrer Herkunftsfamilie ausgezogen wie in heutigen Zeiten. Laut der Shell- Jugendstudie 2010 leben 77 Prozent der 18 bis 21 Jährigen noch in der Herkunftsfamilie. Der Anteil der Jugendlichen der 22 bis 25 Jährigen liegt bei 38 Prozent. In beiden Altersgruppen stieg die Anzahl um ca. 4 Prozent, im Vergleich zur Shell-Jugendstudie 2006, an. Weiterhin ist zu erwähnen, dass männliche Jugendliche (76 Prozent) häufiger noch zu Hause wohnen als weibliche Gleichaltrige (69 Prozent) (vgl. Shell-Studie 2010, S. 67f.).
Abbildung 2
4.1.2 Jugendliche und ihre Entwicklungsherausforderungen
Die Chancen eines gelingenden und reibungslosen Berufseinstiegs werden für Jugendliche in heutigen Zeiten immer schwerer kalkulierbar. Insbesondere strukturell bedingt durch die Spreizung des Arbeitsmarktes und der zunehmenden Bandbreite an Ausbildungsmöglichkeiten und Ausbildungszertifikaten, sind heute außerdem die unmittelbaren, wie langfristigen Folgen der immer noch anhaltenden globalen Wirtschafts- und Finanzkrise für den Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik noch nicht überschaubar (vgl. Shell-Studie 2010, S. 37). Es gab zwar seit 2008 wieder einen ausgeglichenen Ausbildungsmarkt, insgesamt scheinen aber für viele Jugendliche die Schwierigkeiten, ihren beruflichen Einstieg erfolgreich aktiv zu entwerfen und zu gestalten, zugenommen zu haben. Sogar eine gute Bildung und eine ausgezeichnete und hohe Ausbildung garantieren immer weniger die angestrebte Sicherheit in der persönlichen Erwerbsbiografie. Die Jugend als eigenständige Lebensphase ist zu einem Abschnitt der strukturellen Unsicherheit und Zukunftsungewissheit geworden. Mädchen und Jungen treten immer früher in diese Lebensphase ein, sie erhalten aber immer seltener Gelegenheit, sie frühzeitig auch wieder verlassen zu können und in den Status des Erwachsenseins überzutreten (vgl. Shell-Studie 2010, S. 38).
Der konsequente Übergang von der Lebensphase Jugend in das Erwachsenenalter wird für die meisten Jugendlichen durch die ökonomische Unabhängigkeit, in Form eines festen Arbeitsverhältnisses, und der Gründung einer eigenen Familie vollzogen. Diese zwei festgelegten Meilensteine, symbolischer Art, rücken jedoch für eine immens große Anzahl der Jugendlichen weit in die Ferne. Die Lebensphase Jugend erstreckt sich und verläuft nur für einen kleinen Teil der Jugendlichen mit deutlich erkennbaren Übergangsschritten in die Lebensphase des Erwachsenen über. Sie kann als eine relativ offene Lebensphase mit einer Vielzahl an Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung und des Ausprobierens (Moratorium) charakterisiert werden. Heutzutage sind die Freiräume für die meisten Jugendlichen bezüglich des Auslebens von Lebensstilen, der individuellen Ausgestaltung des Alltags, aber auch hinsichtlich Freizeit- und Sozialkontakten oder die Beziehung zu Konsum und Medien größer denn je. Diese vermeintlichen Freiheiten sind es dann aber auch, die dafür Sorge tragen, dass man von der Gesellschaft nicht als gleichwertiges Mitglied betrachtet wird (vgl. Shell-Studie 2010, S 38).
An die Lebensphase Jugend sind darüber hinaus eine Reihe an kulturellen und gesellschaftlichen Erwartungen geknüpft, die von außen an die Jugendlichen herangetragenen werden. Unter diesen Entwicklungsaufgaben werden Zielprojektionen verstanden, die Anforderungen definieren, die ein Mensch in den verschiedensten Lebensphasen zu erfüllen hat (vgl. Hurrelmann 2002, S. 35).
Als Vorreiter der Idee von Entwicklungsaufgaben kann Havighurst genannt werden, der durch sein Werk „Developmental Tasks and Education“ aus dem Jahr 1948, jene Arbeit vorgelegt hat, die bis in heutige Zeiten fortwährenden Einfluss in der entwicklungspsychologischen, aber auch nachbardisziplinären Jugendforschung ausübt. Ursprünglich aus der Idee entstanden, das psychologische Wissen um die Besonderheiten der Jugendphase mit den Möglichkeiten der pädagogischem Intervention zu verknüpfen, hat sich das Konzept zu einem wissenschaftlichen Raster entwickelt, um Jugend von anderen Lebensphasen abgrenzen zu können, ohne dass dabei ein Rückgriff auf Altersangaben notwendig sei. Die Auffassungen davon, was unter einer Entwicklungsaufgabe verstanden wird, haben sich seitdem kaum verändert. Unter ihnen werden Teilaspekte eines lebenslangen Entwicklungsprozesses verstanden, die verschiedener Herkunft entspringen. Die besondere Eigenart der Lebensphase Jugend liegt nach Havighurst´s Konzept im Aufeinandertreffen von divergierenden Anforderungen, die aus körperlichen Veränderungen, gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Bedürfnissen resultieren. Das Entwicklungsaufgaben-Konzept ist grundsätzlich ziel- und zukunftsorientiert, da es auf den Erwerb von Kompetenzen und Werten der Erwachsenengeneration abzielt (vgl. Reinders 2003, S.20ff.). Betrachtet man nun die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters (siehe Abbildung 3), wird ersichtlich, dass diese keine isolierten Aufgaben sind. Einige stellen eine Art Weiterführung von Aufgaben im Kindesalter dar, andere haben ihren Ursprung im Jugendalter, erstrecken sich jedoch weit ins Erwachsenenalter. Havighurst´s Aufstellung von Entwicklungsaufgaben basierte auf der Basis der Kultur der amerikanischen Gesellschaft und ist an Mittelschichtnormen orientiert, die für die 1940er Jahre repräsentativ waren (vgl. Dreher/Dreher 1985, S. 58). Der Vergleich von Havighurst´s Entwicklungsaufgaben mit neueren Ergebnissen (vgl. hierzu die Forschung von Dreher/Dreher 1985, S. 56-70) weist auf Übereinstimmungen in vielen wesentlichen Aspekten auf. Das Ergebnis, dass die von Havighurst aufgestellten Thematiken auch für Jugendliche späterer Generationen von enormer Wichtigkeit erscheinen, lässt den Schluss zu, dass der Havighurst´sche Katalog generationenübergreifende Problematiken der jugendlichen Persönlichkeitsentwicklung beinhaltet, durch die sich im wesentlichen eine idealtypische Struktur des Übergangs zum Erwachsenen kennzeichnen lässt (vgl. Dreher/Dreher 1985, S. 70).
Abbildung 3
Nach diesem von Havighurst geschaffenen Entwicklungsaufgabenkonstrukt werden kulturell und gesellschaftlich vorgegebene Erwartungen an die Individuen der verschiedenen Altersgruppen herangetragen, die ihrer Entwicklung dienlich und der Gesellschaft zu ihrem Fortbestehen funktional sind. Welche konkreten Aufgaben an die Altersgruppen herangetragen werden, ist kultur- und zeitspezifisch. Aus psychologischer Perspektive lassen sich die für die Lebensphase Jugend in den modernen Industriegesellschaften derzeitigen elementaren Entwicklungsaufgaben in vier Cluster unterteilen (vgl. Hurrelmann 2010, S. 27).
Albert/ Hurrelmann/ Quenzel konkretisieren diese vier Bereiche und verknüpfen psychologische und soziologische Argumentationen:
(1) Entwicklungsaufgabe »Qualifikation«: Bei dieser Entwicklungsaufgabe geht es um „die Entfaltung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz, um schulischen und anschließenden beruflichen Anforderungen nachzukommen, mit dem Ziel, eine berufliche Erwerbsarbeit aufzunehmen und dadurch die eigene ökonomische Basis für die selbstständige Existenz als Erwachsener zu sichern. Soziologisch gesprochen handelt es sich hierbei um die Übernahme einer Mitgliedschaftsrolle in der Leistungsgesellschaft und die Vorbereitung für die ökonomische Reproduktion der Gesellschaft“ (Shell-Studie 2010, S. 40).
(2) Entwicklungsaufgabe »Ablösung und Bindung «: Diese Entwicklungsaufgabe beinhaltet „das Akzeptieren der veränderten körperlichen Erscheinung, die soziale und emotionale Ablösung von den Eltern, den Aufbau einer Geschlechtsidentität und von Bindungen zu Gleichaltrigen des eigenen und des anderen Geschlechts sowie um den Aufbau einer Partnerbeziehung, welche potentiell die Basis für eine Familienplanung und die Geburt und Erziehung eigener Kinder bilden kann. Aus soziologischer Perspektive handelt es sich bei dieser Aufgabe um die Übernahme von Verantwortung für die Sicherung sozialer Bindungen und der biologischen Reproduktion der Gesellschaft“ (Shell-Studie 2010, S. 40).
(3) Entwicklungsaufgabe »Regeneration «: Hierbei handelt es sich „um selbstständige Handlungsmuster für die Nutzung des Konsumwarenmarkts einschließlich der Medien, um die Fähigkeit zum Umgang mit Geld, mit dem Ziel, einen eigenen Lebensstil und einen kontrollierten und bedürfnisorientierten Umgang mit den Freizeit-Angeboten zu entwickeln. Soziologisch gesprochen geht es um die Partizipation an der Konsumwirtschaft und die Regenration der Arbeitskraft“ (Shell-Studie 2010, S. 40).
(4) Entwicklungsaufgabe »Partizipation«: Unter dieser Entwicklungsaufgabe wird „[der] Aufbau einer autonomen Werte- und Normenorientierung und eines ethischen und politischen Bewusstseins [verstanden], das mit dem eigenen Verhalten und Handeln in Übereinstimmung steht. Soziologisch gesprochen handelt es sich um die verantwortliche Übernahme von gesellschaftlichen Partizipationsrollen als Bürger im kulturellen und politischen Raum und damit um die Sicherstellung der Einbindung des Individuums in den kulturellen und politischen Reproduktionsprozess einer demokratischen Gesellschaft“ (Shell-Studie 2010, S. 40).
Abbildung 4
Aufgrund des ökonomischen Wandels von einer industriell- produzierenden Gesellschaft zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft sowie eine Geschlechterrollen herausfordernde Identitätsbewegung ist die Verarbeitung und Bewältigung der verschiedenen Entwicklungsaufgaben für eine große Anzahl der Jugendlichen zu einer größeren Herausforderung geworden. Sei es die Konfrontation und Verarbeitung einer Fülle an Informationen oder das Treffen von einer großen Anzahl an Entscheidungen, Jugendliche in der heutigen Zeit sehen sich schweren Herausforderungen gegenüber. Um diese Wahlfreiheit nutzen und bewältigen zu können, benötigen Jugendliche vielgestaltige Kompetenzen, beginnend mit der Fertigkeit, die Konsequenzen ihres Handelns abschätzen zu können, bis zur Selbsterkenntnis und dem Selbstbewusstsein, eigene Präferenzen auszumachen und nach diesen zu handeln. Die vergrößerte Wahlfreiheit und die offeneren Gestaltungsmöglichkeiten können des einen Freud des anderen aber auch Leid sein. Für den einen bietet der große Handlungsspielraum Platz für die kreative Gestaltung der eigenen Zukunft. Für den anderen jedoch kann der große Umfang an Möglichkeiten und Wahlfreiheiten Unsicherheiten und Ängste auslösen. Die Freiheiten können hierbei als Zwang empfunden werden, die eigene Lebensbiografie erfolgreich gestalten zu müssen. Die unmittelbaren Folgen können zu einem Gefühl der Überforderung und zu Zukunftsängsten führen (vgl. Shell-Studie 2010, S. 41).
Welche Faktoren müssen gegeben sein, damit von einem erfolgreichen Übergang von der Lebensphase Jugend in die Lebensphase Erwachsenenalter gesprochen werden kann? Nach Hurrelmann ist ein erfolgreicher Übergang geschehen, wenn die vier erwähnten Entwicklungsaufgaben (Qualifikation/ Ablösung und Bindung/ Regeneration/ Partizipation) bewältigt und damit die Selbstbestimmungsfähigkeit des Individuums erreicht wird. Konkret bedeutet dies:
(1) Die Entwicklung der intellektuellen und sozialen Kompetenzen ist weitestgehend abgeschlossen und die Übernahme von selbstverantwortlichen und existenz- sichernden (insbesondere beruflichen) Tätigkeiten ist erfolgt.
(2) Der feste Aufbau einer Partnerbeziehung zum anderen (beziehungsweise eigenen) Geschlecht ist vollzogen und die Möglichkeiten einer Familiengründung sind vorhanden.
(3) Im Bereich Konsum und Freizeit hat sich ein hoher Grad an Selbstständigkeit bei der persönlichen Verhaltenssteuerung entwickelt.
(4) Das Werte- und Normensystem ist geebnet und hat eine vorläufige Beständigkeit erreicht, so dass verantwortliches und gemeinnütziges Handeln auf Grundlage dessen möglich ist (vgl. Hurrelmann 2010, S. 28).
Im westeuropäischen Kulturraum ist der Erwachsenenstatus zumeist durch diese erwähnten Entwicklungsaufgaben charakterisiert. Diese sind Persönlichkeitsmerkmale, die sich durch einen hohen Grad an Selbstständigkeit und Selbstbestimmung in Auseinandersetzung mit den verschiedensten Anforderungen auszeichnen und Verantwortlichkeit gegenüber den Belangen und Interessen anderer Menschen zum Ausdruck bringen. Trotz dieser Merkmale ist die Abgrenzung zwischen Jugend und Erwachsenenalter ein schwieriges Unterfangen. Die Grenzen erweisen sich als fließend, individuell und es ist kaum möglich, eine für alle Menschen verbindliche und fest erwartbare Reife- bzw. Altersschwelle für den Übergang zwischen den beiden Lebensphasen zu definieren. Nach den traditionellen und dementsprechend weitverbreiteten Vorstellungen in unserem Kulturkreis sollte der Übergang zwischen 18 und 21 Jahren erfolgen. Doch mittlerweile ist man sich bewusst, dass ein immer größer werdender Anteil der Jugendlichenpopulation erheblich mehr Zeit benötigt, um den Entwicklungsaufgaben gerecht zu werden und sich den psychischen Herausforderungen zu stellen, die für das Erwachsenenleben bedeutsam sind (vgl. Hurrelmann 2010, S. 29).
4.1.3 Besondere Entwicklungsaufgaben von fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen
Wie bereits erörtert, etablierte sich die Konzeption der Entwicklungsaufgaben durch Havighurst. Dabei geht es um altersspezifische Aufgaben, die im Wechselspiel zwischen individuellen Anliegen und körperlichen Bedingungen des Jugendlichen und den Umweltbedingungen bewältigt werden müssen (vgl. Flammer/ Alsaker 2002, S. 56f.). Fortführend werden geeignete Zeitintervalle in der menschlichen Lebensspanne definiert, um spezifische Aufgaben zu erfüllen. Die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben führt zu einer ganzheitlichen persönlichen Weiterentwicklung und Veränderung und bereitet die weitere Bewältigung der Lebensanforderungen vor. Die Entwicklungsaufgaben werden von unterschiedlichen Seiten an die Jugendlichen herangetragen und akzentuiert, sei es von der Gesellschaft, einer Bezugsperson oder der eigenen Person selbst. Die Jugendphase, als für diese Handreichung am bedeutungsvollste Lebensphase, können folgende Hauptentwicklungsaufgaben ausgemacht werden: (1) die Identitätsbildung/ –entwicklung, (2) das Erlangen von Selbstsicherheit/ Autonomie und Handlungsfähigkeit (3) die Erweiterung von Wissen, (4) die Freundschaftsgestaltung und Partizipation am gesellschaftlichen Alltag sowie (5) den Aufbau von Wertvorstellungen und Zukunftsperspektiven. Die Bewältigung all jener Aufgaben wird als Prozess verstanden, indem die, an sie herangetragenen Anforderungen, Belastungen und Bewältigungsmöglichkeiten, eingeschätzt werden. Im Konzept der Entwicklungsaufgaben werden die kulturellen, sozialen, biologischen und die subjektiv-individuellen Komponenten von Entwicklung verflochten (vgl. Flammer/ Alsaker 2002, S. 65ff.).
Für Pflegekinder lassen sich in Anlehnung an dieses Basiskonzept der Entwicklungsaufgaben besondere Entwicklungsaufgaben beschreiben. Von hauptsächlichem Interesse ist die Auseinandersetzung mit pflegekindspezifischen Herausforderungen bis zum Jugendalter und während des Jugendalters. Als Pflegekindspezifisch gelten beispielsweise die Aufarbeitung der biografischen Beziehungs- und Bindungserfahrungen; der Aufbau einer als positiv eingeschätzten Beziehung zu den Pflegeltern/ Pflegefamilie; der Aufbau eines weiteren sozialen Netzes außerhalb der Pflegefamilie; die Beziehungsgestaltung mit zwei Familien; der Umgang mit Loyalitätskonflikten; die Identitätsbildung als Pflegekind und zwischen den Familien; und die Bewältigung der Probleme, die mit diesen Herausforderungen einhergehen (vgl. Gassmann 2010, S. 71f.).
4.1.4 Familienorientierung
Neben der Entwicklungsaufgabe, sich zu qualifizieren und autonom den Bildungs- und Berufsanforderungen nachzukommen, spielt der Entwicklungsschritt „Ablösung und Bindung“ einen fundamentale Rolle in der Lebensphase Jugend. Die soziale und emotionale Ablösung von den Eltern, der Aufbau einer Geschlechtsidentität und die Orientierung an einer Partnerschaft, sind zunehmend komplexe Prozesse geworden. Aus vergangenen Shell-Erhebungen wurde das Fazit gezogen, dass die familiäre Wertschätzung in der heutigen jüngeren Generation enorm groß ist. Eine Familie wird für einen Großteil der Jugendlichen für wertvoll erachtet, um das eigene Leben zu gestalten. Fortführend orientiert sich eine große Mehrheit der Jugendlichen an der Lebensführung der eigenen Eltern. So werden Mutter und/oder Vater zum wichtigsten Bezugspunkt und Ratgebenden in vielen Lebensfragen und sogar zu Rollenmustern einer gelingenden Lebensbewältigung. (vgl. Shell-Studie 2010, S. 43)
Die Ergebnisse konnten aber auch aufzeigen, wie sich die Zukunftsunsicherheit in der Jugendphase auf die Familieorientierung auswirkt. Immer mehr junge Frauen und noch mehr Männer zögern den Auszug aus dem Elternhaus und die Gründung eines eigenen Haushalts immer weiter hinaus. Die aktuelle Wirtschaftskrise wird diesen Trend möglicherweise noch weiter verschärfen (Shell-Studie 2010, S. 44).
Mit der Ablösung von der Herkunftsfamilie ist für die Lebensphase Jugend gleichzeitig die Fokussierung zur Gleichaltrigengruppe (Peer-group) verbunden. Aufgrund des frühen Eintritts in die Pubertät spielt die Peer-group schon für die Zehn- bis Zwölfjährigen eine wichtige Rolle in Fragen der Lebensstilgestaltung, der Lebensperspektive oder der Wertorientierung. Die besonderen Entwicklungsaufgaben in diesem Bereich bestehen in den Herausforderungen, eine gleichberechtigte Beziehung zu Mitgliedern beiden Geschlechts aufzubauen, Freundschaften und Kontakte zu pflegen, souverän und verantwortlich mit Geld umgehen zu lernen und in die Rolle eines Konsum- und Wirtschaftsbürgers hineinzuwachsen sowie ein Normen- und Wertesystem und ein politisches Bewusstsein zu entwickeln (vgl. Shell-Studie 2010, S. 46).
4.1.5 Milieuspezifische Bewältigungsmuster der Entwicklungsaufgaben
Es ist nicht nur die zeitliche Ausdehnung, sowie die Pluralisierung, die die Lebensphase Jugend in heutigen Zeiten prägen, sondern insbesondere die soziale Ungleichheit (vgl. Rätz-Heinisch/Schröer et al. 2009, S. 35).
Bei aller zu beobachtender Vielfalt der Lebenswelten in der Jugendphase darf eben nicht außer Acht gelassen werden, welch wichtige Rolle die soziale Herkunft der Jugendlichen spielt. Die Herkunftsfamilie ist der Ausgangspunkt und kann in einem besonderen Maß auf die Chancen und den zukünftigen Werdegang eines Jugendlichen weitreichend einwirken. Ein beträchtlicher Teil der Elternhäuser kann den eigenen Kindern gute soziale und ökonomische Rahmenbedingungen bieten. Damit gehen sehr gute Bildungschancen für die Jugendlichen, deren soziale Kompetenzen und Selbstvertrauen sich in den verschiedenen Bildungsinstitutionen positiv entwickeln, einher. Neben einer weiteren Anzahl an Eltern, denen es trotz schwieriger und nicht ganz spannungsfreien Rahmenbedingungen gelingt, den eigenen Nachwuchs ein gutes Leben und insbesondere einen guten Start zu bereiten, darf nicht jener Anteil Jugendlicher vernachlässigt werden, die in Elternhäusern mit vergleichsweise problematischen Lebensumständen aufwachsen. Nicht nur Arbeitslosigkeit und damit einhergehende materielle Einschränkungen charakterisieren diese Lebensumstände, auch die qualitativ gut genutzte gemeinsame Zeit mit den Kindern ist unter prekären materiellen Lebenslagen deutlich schwieriger zu gewährleisten (vgl. Shell-Studie 2010, S. 54).
Trotz der weitreichenden Individualisierung von Lebensstilen spricht man in der Sozialwissenschaft immer noch von sozialen Schichtzugehörigkeiten in unserer Gesellschaft. Hierbei wird der Begriff Schicht verwendet, um die Unterschiede im Zugang zu ökonomischen Ressourcen und Bildungszertifikaten und die daraus entspringenden Lebenslagen von verschiedenen Gruppen in der Bevölkerung zu umschreiben. Da es sich sowohl bei monetären Vermögen, als auch bei Bildung um allseits begehrenswerte und wichtige Ressourcen handelt, die in der Gesellschaft ungleich verteilt sind, erfasst der Schichtbegriff mit seinen Kategorien Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht die hierarchische Verteilung der bereits erwähnten Ressourcen. Aus den Ergebnissen vergangener Shell-Jugendstudien (vgl. u.a. die Shell-Studien 2002, 2006) zeichnet sich deutlich die Beobachtung ab, dass es nach wie vor kaum gelingt, die soziale Spaltung der Gesellschaft, die besonders für die Jugendlichen aus den unteren Schichten weitreichende Folgen haben kann, zu überbrücken. Vielmehr schreitet die „Vererbung“ von Bildungschancen weiter voran. So zeigen Ergebnisse, dass es unter Heranwachsenden mit Eltern, die selber über einen hohen Bildungsabschluss verfügen, es nur wenige gibt, die beispielsweise selber das Abitur nicht schaffen. Im Gegensatz sind jedoch bei Kindern mit Eltern, die über keinen bzw. einen einfachen Bildungsabschluss verfügen, hohe Bildungsabschlüsse deutlich seltener. Zwar haben sich im Rahmen der Bildungsexpansion in den letzten drei Dekaden die Chancen von Heranwachsenden, die nicht aus akademischen Elternhäusern kommen, das Abitur oder einen anderweitigen Hochschulabschluss zu erwerben erhöht. Diese beobachtete Mobilität ist jedoch fast ausschließlich bei Jungendlichen aus der mittleren Schicht auszumachen. Wird der Blick auf das untere und das obere Ende der sozialen Statusgruppen gerichtet, so wird deutlich, dass es dort kaum zu einer Öffnung gekommen ist. Abstiege von ganz oben und Aufstiege von ganz unten sind unwahrscheinlich. Das Risiko in der unteren Schicht zu verbleiben, hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Für diese Schichtgruppe hat sich die Chance auf höhere Bildung (-abschlüsse) ungemein verschlechtert. Jenseits der wichtigen Thematik der Bildungschancen wird außerdem deutlich, dass in der gesamten alltäglichen Lebensführung soziale Unterschiede sichtbar werden. Seien es Umgangsformen und Erziehungsstile, Einstellungen zur eigenen Person, zur Gesundheit und zum Körper, oder die Motivation für Bildung und Berufstätigkeit. Die unterschiedlichen sozialen Lebenslagen der Jugendlichen haben weitreichende Folgen (vgl. Shell-Studie 2010, S. 54).
Abbildung 5
Soziale Positionen sind weiterhin auch als soziale Abgrenzung zwischen Jugendlichen verschiedener Herkunft bedeutsam. Es kann beispielsweise als recht unwahrscheinlich erachtet werden, dass sich eine Gymnasiastin etwa in einen Hauptschüler verliebt. Sie bewegen sich gewohnheitsmäßig in unterschiedlichen Freundeskreisen, falls sie sich dennoch begegnen, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die Schnittmenge gemeinsamer Interessen relativ gering ist. Die unmittelbare Position in der Struktur sozialer Ungleichheit haben auch gegenwärtig Auswirkungen darauf, welche spezifische Bedeutung der Lebensphase Jugend zukommt (vgl. Scherr 2009, S. 43f.). In Anlehnung an Zinnecker (1986) können die Jugendkonzepte bezüglich der Schichtzugehörigkeit folgendermaßen beschrieben werden:
Privilegierte | Mittelschichten | Arbeiterschicht | Unterprivilegierte |
Statuserhalt und soziale Abgrenzung „nach unten“
Jugend als Zeit der freien Persönlichkeitsentwicklung jenseits gesellschaftlicher Zwänge und sozialer Notlagen |
Statuserhalt unter Bedingungen der Unsicherheit und Konkurrenz; ggf. Jugend als mit Aufstiegshoffnungen verknüpfte Laufbahn
Jugend als Zeit der Qualifizierung und der zweckgerichteten Vorbereitung auf das Erwachsenenleben mit begrenzten Freiräumen | Gemengelage von Statuserhalt, Abstiegsvermeidung und Aufstiegsbemühungen
Jugend als notwendige Vorbereitung auf das Arbeitsleben und als eng begrenzte Phase der relativen Freiheit, die es erlaubt, Dinge auszuleben, die unter den Zwängen des Erwachsenlebens (Arbeit u. Familie) nicht mehr möglich sein werden. Ggf. Jugend als mit Aufstiegsanstrengungen verbundene Phase der Qualifizierung |
Begrenzte Hoffnungen oder Hoffnungslosigkeit in Hinblick auf eine Verbesserung der eigenen Lage
Jugend als kurze Übergangsphase ins Erwachsenenleben unter Bedingungen materieller Knappheit |
vgl. Scherr 2009, S. 44 |
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Abbildung 6
Demnach stehen Jugendliche unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit verschiedenen Problemen, Themen, Herausforderungen und Rahmenbedingungen gegenüber. Darüber hinaus bestimmt die Schichtzugehörigkeit in einem großen Maß, welche Mittel und Ressourcen jeweils vorhanden und welche Problembewältigungsmuster erkennbar sind.
Wie bereits erwähnt, kann die Jugendphase bzw. die Jugend nicht vereinheitlicht werden. Es gibt also nicht DIE JUGEND, mit manifesten Eigenschaften. Innerhalb der Sinus-Milieustudie wurde diesbezüglich der Versuch unternommen, Lebenswelten Jugendlicher systematisch zu kategorisieren und darzustellen (siehe Sinus-Lebensweltenmodell u18 In: Calmbach et al. 2011, S. 35ff.). Demnach gibt es auch nicht DIE JUGENDLICHEN aus DER UNTERSCHICHT oder DER MITTELSCHICHT. Allen gemein sind die spezifischen Herausforderungen und Problematiken, denen sich die Jugendlichen, mal mehr mal weniger, in Abhängigkeit ihrer Milieuzugehörigkeit stellen und bewältigen müssen:
(1) „Die Schere zwischen Arm und Reich [geht] […] immer weiter auseinander“ (Calmbach et al. 2011, S. 15).
(2) „Der Leistungs- und Bildungsdruck hat sich unter immer komplexeren, globalisierten Rahmenbedingungen erhöht“ (Calmbach et al. 2011, S. 15).
(3) „Die Zahl von Arbeitsplätzen mit geringer Einkommenssicherheit ist gestiegen“ (Calmbach et al. 2011, S. 16).
(4) „Es wird immer mehr Eigenverantwortung eingefordert“ (Calmbach et al. 2011, S. 17).
(5) „Lebensläufe und Erwerbsbiografien sind immer weniger planbar“ (Calmbach et al. 2011, S. 18).
(6) „Jugendliche müssen sich immer stärker in Eigenregie sozialisieren“ (Calmbach et al. 2011, S. 18).
Besonders drastisch spiegelt sich die Situation derjenigen Jugendlichen wider, die der Etikettierung der Unterschicht zugeordnet werden können. Innerhalb der Sinus-Milieustudie wurde der Lebensalltag vieler Jugendlicher erforscht und beschrieben. Demnach bewegen sie sich zumeist in Lebenswelten, in denen sich viele verschiedene Risikolagen wiederfinden. Sei es ein bildungsfernes Elternhaus, Erwerbslosigkeit der Eltern, ein Familieneinkommen an oder unterhalb der Armutsgrenze oder schlechte Perspektiven, einen (höherwertigen) Schulabschluss zu erreichen. In der Sinus-Studie als „prekäre Jugendliche“ tituliert, werden ihnen die schwierigsten Startvoraussetzungen bescheinigt. Sie sind sich zumeist ihrer sozialen Benachteiligung bewusst und sind bemüht ihre Situation zu verbessern, trotz dem Gefühl, dass Chancen strukturell verbaut sind. Der Wunsch dazuzugehören und etwas zu erreichen ist enorm ausgeprägt, die Wahrnehmung jedoch, dass das nur schwer gelingt relativiert dieses. Gerechtigkeit und Fairness in der Gesellschaft wird für sich kaum gesehen. Die subjektive Wahrnehmung geringer Aufstiegsperspektiven hat die Folge, dass sich das Gefühl einschleicht, dass sich (schulische) Anstrengungen und Leistung nicht lohnen. Eine andere Ausprägung sind unrealistische, gar kindlich-naive Zukunftsvorstellungen, beispielsweise später als Popstar, Fussballer oder Arzt Karriere zu machen (vgl. Calmbach et al. 2011, S. 177).
Darüber hinaus rücken Fragen in das Bewusstsein: Ist man wegen seiner Bildungsdefizite nichts wert? Warum wird „Hauptschüler“ als Schimpfwort verwendet? Verstärkt können solche Ausgrenzungserfahrungen durch die Arbeitslosigkeit der Eltern und der oftmals damit einhergehenden Abhängigkeit von Transferleistungen sein. Nicht selten wachsen „prekäre“ Jugendliche in instabilen und konfliktbeladenen Familien auf. Das Familienleben wird daher von vielen Jugendlichen als belastend wahrgenommen. Armutserfahrungen sind für die „prekären“ Jugendlichen Realität und Alltag (vgl. Calmbach et al. 2011, S. 178). Auch der Bereich der Bildung ist für viele „prekäre“ Jugendliche überdurchschnittlich problembelastet und konfliktreich. Laut der Sinus-Milieustudie sind „prekäre“ Jugendliche vergleichsweise schulfern. Die Schule ist als Lebensort erheblich durch Misserfolg und Frustration geprägt. In der Wahrnehmung von Schule ist insbesondere der Zwang präsent (vgl. Calmbach et al. 2011, S. 193). Den Unterrichtsalltag erleben viele als Überforderung, sie fühlen sich abgehängt und kapitulieren. In diesem Kontext wird der Schulalltag als langweilig bzw. als sinnlos erlebt. Die Motivation, sich in der Schule anzustrengen, ist auch hier vergleichsweise dürftig, besonders weil das Ziel, für welches es sich lohnen würde sich anzustrengen, für viele „prekäre“ Jugendliche nicht erkennbar erscheint. Die schulische Vor- und Nachbereitung findet eher selten statt, zumal oftmals den Jugendlichen die Unterstützung der Eltern fehlt (vgl. Calmbach et al. 2011, S. 194), sei es durch die elterliche Bildungsferne, sprachlichen Barrieren bei einem Migrationshintergrund oder schlichter Desinteresse seitens der Eltern.
Auch die Thematiken der (beruflichen) Orientierung und Zukunft stehen im Kontext der Wahrnehmung von Armut oder Armutsgefährdung in der Familie. Das Empfinden eigener Überflüssigkeit und Nutzlosigkeit behindert im großen Maß die Entwicklung von Selbstvertrauen, Stärke und Selbstwirksamkeit, wodurch der weitere Lebensweg massiv beeinflusst wird. Bezüglich der Entwicklungsherausforderung der beruflichen Orientierung haben Jugendliche aus anderen Lebenswelten und sozialen Milieus oftmals zumindest eine vage Vorstellung, welche beruflichen Optionen sie realistisch mit ihrem Schulabschluss erreichen können. Dieses realistische Orientierungswissen fehlt „prekären“ Jugendlichen zumeist. So zeigen sie sich einerseits recht pessimistisch hinsichtlich ihrer Ausbildungsperspektiven, andererseits unrealistisch optimistisch. Die Traumberufe, etwa des Arztes, des Anwalts oder des Medienstars weisen auf ein deutliches Dilemma zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Wie eine Ausbildung zu einer solchen Tätigkeit verläuft, welche Grundvoraussetzungen oder –Qualifikationen von Nöten sind und wie genau das Berufsbild aussieht, wissen die wenigsten (vgl. Calmbach et al. 2011, S. 197f.).
Dennoch ist es den meisten „prekären“ Jugendlichen klar, dass sozialer Aufstieg eng an Bildungserfolge gekoppelt ist, dass man also ohne Schulabschluss und Berufsausbildung kaum eine reelle Chance hat. Gleichzeitig erleben sie, dass selbst mit einem Schulabschluss der Ausbildungsplatz nicht sicher und mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung eine berufliche Festanstellung nicht gewährleistet ist. Diese Lage führt zu einer massiven Unsicherheit und zu der resignierenden Frage: Wozu denn dann überhaupt? (vgl. Calmbach et al. 2011, S. 198).
4.2 Entwicklungspsychologische Grundgedanken und Basismodelle
Die körperliche, emotionale und kognitive Entwicklung betreffenden Veränderungen des Individuums sind primärer Gegenstand der Entwicklungspsychologie. Die Entwicklungspsychologie des Jugendalters umfasst unterschiedliche Theorien über die altersspezifische Entwicklungsdynamik. Im besonderen Fokus stehen, anders als in der Soziologie, die innerpsychischen Prozesse. Insofern stellt das entwicklungspsychologische Wissen eine wichtige und notwendige Ergänzung zu den soziologischen Erkenntnissen dar (vgl. Scherr 2009, S. 113). Denn für die Jugendsoziologie ist die Entwicklungspsychologie des Jugendalters besonders aus zwei Gründen relevant:
(1) Die Entwicklungspsychologie rückt Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter in einer Weise in den Vordergrund, die einer ausschließlich soziologischen Begründung nicht wirklich zugänglich sind.
(2) Darüber hinaus sind entwicklungspsychologische Annahmen sozial folgenreich, da sie beispielsweise durch populärwissenschaftliche Zeitschriften, Ratgeberliteratur und die Massenmedien die gesellschaftliche Vorstellung über Jugendliche und den Umgang mit ihnen beeinflussen (vgl. Scherr 2009, S. 115).
In diesem Kapitel soll es nun darum gehen, einzelne aber fundamentale Theorien und Modelle vorzustellen. So etwa die Stufenmodelle zur kognitiven Entwicklung nach Jean Piaget und moralischen Entwicklung und Lawrence Kohlberg. Das gleiche gilt für das Stadienmodell der Identitätsentwicklung nach Erik H. Eriksen.
4.2.1 Psychosoziale Entwicklung nach Erik H. Erikson
Die in den vergangenen Jahrzehnten weltweit wohl einflussreichste und weitest reichende Beschreibung der entscheidenden psychischen Entwicklungsprozesse stammt von Erik Erikson. Im Zentrum seiner theoretischen Überlegungen steht die Identitätsproblematik. Mit dem Konzept der Ich-Identität hat Erikson wohl grundsätzlich eine entscheidende Kernproblematik von Heranwachsenden in den Fokus genommen. Dabei ging er von einem, psychosoziale Dimensionen umfassenden, „epigenetischen Entwicklungsmodell“ aus, welches den gesamten menschlichen Lebenslauf als eine Abfolge von normativen Krisen versteht, insbesondere von alterstypischen Problemkonstellationen, die entweder eine günstige oder eher ungünstige vorläufige Lösung erfahren können. Sein achtstufiges Strukturmodell des menschlichen Lebenslaufes ist berühmt geworden und Grundlage zahlreicher entwicklungspsychologischer Diskurse und soll im Folgendem näher betrachtet werden (vgl. Göppel 2005, S. 20):
(1) Urvertrauen vs. Misstrauen: In den ersten Lebensjahren soll sich im günstigen Falle das Urvertrauen des Menschen bilden. Hierunter werden das Zutrauen zu anderen sowie das Gefühl der eigenen Vertrauenswürdigkeit verstanden. Die Erfahrungen, dass der eigene Hunger gestillt, Unwohlsein besänftigt, oder vertrautes wiederhergestellt werden kann, schafft eine innere Sicherheit. Unter diesen Zuständen bestimmen Gefühle des Wohlbehagens den Säugling, der nun die Mutter aus dem Gesichtskreis entlassen kann. Diese feine Regulierung der Interaktion zwischen Säugling und Mutter bereitet darauf vor, Befriedigungsaufschub immer öfter zu ertragen und die Abwesenheit der Mutter immer länger auszuhalten. Beständigkeit und Zuverlässigkeit bereiten das spätere Gefühl des Kindes vor, dass man ein Selbst besitzt, das das Vertrauen in die Umwelt rechtfertigt (vgl. Fend 2000, S. 404).
(2) Autonomie vs. Scham und Zweifel: „Ich bin, was ich will“ – so definierte Erikson das Identitätsgefühl innerhalb der zweiten Lebensphase. Der Heranwachsende ist nicht mehr nur abhängig, sondern beginnt, sich als Wesen mit eigenem Willen zu begreifen. Für Erikson sieht sich das Kind im zweiten bis dritten Lebensjahr mit einer neuen Lebensfokussierung konfrontiert. Diese ist durch die Reifung des kindlichen Muskelsystems geprägt, die ein aktives Festhalten, ein bereitwilliges Loslassen, also insgesamt ein selbststeuerndes Agieren ermöglicht und darüber hinaus dazu führt, dass das Kind sich Fortbewegen kann, die Umwelt erkundet und so zu einem aktiven Handlungszentrum wird. Übermäßig strenge elterliche Kontrolle kann hier Zwanghaftigkeit und krampfhaftes Festhalten fördern. Im günstigen Fall resultiert Autonomie, bei dem das Kind die Erfahrung machen muss, selber etwas aktiv zu bewerkstelligen, selber etwas zurückzuhalten oder selber etwas zu geben. Dabei darf es nicht vom Gefühl bedeckt werden, etwas Falsches getan zu haben, sich bloßgestellt zu haben. „Es wird schon gut gehen, wenn ich etwas selber tue, diese hoffnungsvolle Eigenständigkeit muß (sic) sich jetzt etablieren […]. Aus einer Empfindung der Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühls entsteht ein dauerndes Gefühl von Autonomie und Stolz. Aus einer Empfindung muskulären und analen Unvermögens, aus dem Verlust der Selbstkontrolle und dem übermäßigen Eingreifen der Eltern entsteht ein dauerndes Gefühl von Scham und Zweifel“ (Fend 2000, S. 405).
(3) Initiative vs. Schulgefühl: Nach Ansicht Eriksons ist das Kind im vierten bis fünften Lebensjahr auf der Suche nach einer Rolle. Es möchte herausfinden, welche Person es sein könnte und bewältigt dies, indem es sich aktiv mit den Eltern identifiziert und experimentell Rollen durchspielt. Folgende Entwicklung führen dazu: (1) Das Kind hat gelernt, sich freier zu bewegen und vergrößert somit seinen Handlungsradius. (2) Die Sprache ermöglicht dem Kind, viel zu verstehen und viel zu fragen. (3) Sprache und Phantasie erlauben ihm, seine Phantasie auf viele Rollen auszudehnen (vgl. Fend 2000, S. 405).
Dieses Ausprobieren verlangt und verstärkt die Erfahrung der Initiative und schult den gezielten Einsatz des Willens. Erikson ordnet in dieser Lebensstufe die Entstehung des Gewissens ein, welches in der Phantasie wurzelt. Dadurch wird im Inneren die Selbstbeobachtung etabliert, die Spaltung in Bereiche, in denen man gut und in denen man schlecht ist (vgl. Fend 2000, S. 405).
(4) Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl: Die beginnende Schulzeit bis zum Eintritt in die Pubertät schildert Erikson als eine Zeit der intensiven Beschäftigung mit selbst gewählten Aspekten und in Auseinandersetzung im Verbund mit anderen. Weiterhin ist diese Phase geprägt durch eine große Lernbereitschaft, einer vermehrten Außenwendung und eine intensive Aufnahme der Realität. Das Kind dringt nun nicht mehr wesentlich in die Bereiche anderer ein oder fordert von Erwachsenen bedingungslose Aufmerksamkeit. Vielmehr widmet es sich den Dingen, schließt sich Gleichaltrigen an und ist auf der Suche nach Identifikationsmöglichkeiten mit Erwachsenen. „Es stülpt seine Phantasie nicht mehr über die Erscheinungen, sondern es gleicht sich den Gesetzen der Materie an, erkennt ihre Eigendynamik. Es rennt nicht mehr mit einem Holzscheit als Funkgerät herum, sondern verlangt nach einem »funktionierenden Gerät«“ (Fend 2000, S. 405f.).
Das Verhalten des Kindes ist geprägt durch einen zügellosen Betätigungsdrang, Ausdauer und dem Wunsch nach Kompetenzdemonstration. Im günstigen Fall entwickelt sich aus dem Gefühl, Dinge bewältigen zu können und nützlich zu sein, eine Lust an der Vollendung eines Werkes durch Beharrung und Eifer. Die entgegengesetzte Entwicklungsgefahr besteht in der Entwicklung eines Gefühls der Minderwertigkeit. Bekommt das Kind nämlich immer das Feedback, ungenügend zu sein und nie etwas zur Zufriedenheit gemacht zu haben, können auch Barrieren für die nächste Phase, für die anschließende Identitätsfindung, leicht entstehen (vgl. Fend 2000, S. 406).
(5) Identität vs. Identitätsdiffusion: In der Jugendphase entfaltet sich das Zielsystem einer Person, indem die Frage angegangen wird: Wer bin ich? Im günstigen Fall gelingt es dem Heranwachsenden, Ideale und Idole zu entwickeln, an die er glaubt und die ihm die Aussicht vermitteln, was er sein und wonach er streben könnte. In einem nächsten Versuch wird es dann möglich, ein Identitätsangebot der Kultur in Form einer Berufsperspektive zu akzeptieren, in die die Anstrengungen der eigenständigen Lebensgestaltung fließen. Dies ist ein schwerer und langer Prozess, in dem die phantastischen Vorstellungen aus der Kindheit, was man sein oder werden könnte, in realistische und angepasste Bahnen gelenkt werden müssen. Fortführend muss eine höhere Form des Vertrauens entwickelt werden, nämlich das Vertrauen in sich selber, die Treue zu sich selbst und zu dem, was man für das Eigentliche an sich selber hält (vgl. Fend 2000, S. 406).
Den Entwicklungsgefahren innerhalb des Jugendalters hat Erikson sein Hauptaugenmerk gerichtet. Als Gegenpart zu Identität nennt er Identitätsdiffusion (bzw. Rollenkonfusion). Aus individuellen biografischen, aber auch aus kulturellen Gründen kann es zur Verwirrung kommen, zu einer Unfähigkeit, eine klare Perspektive in der eigenen Entwicklung zu erkennen. Insbesondere zeigen sich Identitätsdiffusionen in (1) einer „Auflösung der Zeitperspektive“, in der es schwer fällt, eine biografische Kontinuität und ein zukünftiges Sein zu begreifen. (2) Weiterhin zeigt sie sich in einer „Identitätsbefangenheit“, in der auf Zweifel und Schamgefühl zurückgehende Unfähigkeit, sich als Person identisch zu fühlen und darzustellen, etwa in Form von Blickvermeidung oder Überkonformität. (3) Ferner in einer Flucht in eine negative Identität bzw. in eine Pseudoidentität. Hierbei wird das Eigene durch die bewusste Wahl des Gegenteils, was andere sind und erwarten, gefunden. Es reicht, einfach anderes zu sein, eine Auseinandersetzung mit anderen Positionen erfolgt dementsprechend nicht. (4) Abschließend in einer Arbeitslähmung, da Störungen der Identität oftmals von akuten Arbeitsstörungen begleitet werden. Dabei ist der Heranwachsende nicht fähig, sich auf eine Arbeit zu konzentrieren, bei der nicht fehlende Begabung, sondern eher unrealistische Forderungen und ein zum Perfektionismus neigendes Ich-Ideal als Grund dienen (vgl. Fend 2000, S. 407).
Heutzutage lassen sich viele Selbstdarstellungen von Jugendlichen als Versuche erklären, eine eigene Identität zu demonstrieren, etwa in Form von ungewöhnlicher Bekleidung, der Körpergestaltung oder des Verhaltens. Hierbei entwickelt sich weniger ein intensiver Weg ins Innere als ein Versuch, über eine Gruppenidentität innerhalb des Freundeskreises bzw. der Peer-group Stabilität und Konstanz im Selbst zu gewinnen. Die Identitätsarbeit in dieser Phase ist aber auch von anderer Seite gefährdet. So nennt Erikson beispielsweise eine Überidentifikation mit Eltern und Erwachsenen, das bedingungslose Festklammern an Vorbildern, starre Positionen, Vorurteile oder Ideologien. Die Balance zwischen Diffusion und Rigorismus (Starrheit) zu finden ist der von vielen Seiten bedrohte Weg der Identitätsarbeit (vgl. Fend 2000, S. 407).
(6) Intimität vs. Isolierung: Im Anschluss an die Entwicklung der Identität stellt sich für Erikson das Thema der Intimität vs. Isolation. Wenn Jugendliche es geschafft haben, für sich und in sich einen Sinn zu finden, dann ist die Grundlage entstanden, Intimität mit anderen einzugehen, worunter auch Freundschaften zu verstehen sind. Gelingt ihnen dieses jedoch nicht, dann kann im ungünstigen Fall Einsamkeit und Isolation entstehen (vgl. Fend 2000, S. 407).
(7) Generativität vs. Selbst-Absorption: Ist die Intimitätsproblematik der vorausgegangenen Phase erfolgreich bewältigt, können Beruf und Familie die Ausführung von Lebensplänen befähigen. Die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse nach hinten zu verlagern und stattdessen sich einzubringen, schafft den Einsatz zur Generativität, zur Sorge um andere, beispielsweise der eigenen Kindern oder anderer vertrauten Menschen. Gelingt diese Entwicklung nicht, dann droht die Gefahr der Selbstabsorption, die reine Orientierung an den eigenen Bedürfnissen (vgl. Fend 2000, S. 407).
(8) Integrität vs. Lebens-Ekel: Die Frage, ob nun das Leben „gelungen“ ist, stellt sich in der letzten Entwicklungsphase, die Erikson unter der Gegenüberstellung Integrität vs. Lebens-Ekel aufwirft. Der Rückblick bezeigt die Sinnhaftigkeit des gelebten Lebens, oder die Erkenntnis, in einem nichtwiederholbaren Leben Entscheidendes versäumt zu haben. Aus dem ungünstigen Verlauf kann eine Altersverzweifelung entstehen, die sich in Abscheu gegenüber der Welt und anderen Menschen offenbart (vgl. Fend 2000, S. 407).
Jede dieser Grundthematiken hat an und für sich ihr eigenes Zeitfenster, in der sie bedeutsam wird und im Vordergrund steht. Dabei betont Erikson aber auch, das sie in den nachfolgenden Lebensstufen weiterhin von Bedeutung seien können. Ein weiterer Aspekt den Erikson hervorhebt ist, dass es sich bei den jeweils gefundenen Lösungen im Rahmen des Entwicklungsschemas nicht um starre, endgültige Festlegungen handelt, sondern viel eher um vorläufige Ausprägungen der psychischen Struktur. Diese sind aber dennoch von Bedeutung und entwickeln eine Neigung von Kontinuität, als das sie künftige Erwartungshaltungen beeinflussen und als Muster dienen, mit Hilfe derer spätere Lebenserfahrungen psychisch verarbeitet und bewertet werden (vgl. Göppel 2005, S. 20f.).
Mit Abstand am ausführlichsten und für diesen Diskurs am interessantesten hat sich Erik Erikson mit der 5. Phase, eben jener der Adoleszenz (Jugend) beschäftigt. Die innerpsychischen Umwälzungen, etwa der physiologisch bedingte Triebschub oder das Ringen zwischen Ich und Es sind es, die das Jugendalter in einem besonderem Maß beeinflussen. Für Erikson stand die Frage im Raum, was die Gesellschaft mit dem Teil ihrer Mitglieder macht, die inmitten solcher Prozesse sind, welche Erwartungen, Anforderungen, Hilfen, Spielräume, Begrenzungen etc. sie den Heranwachsenden entgegenbringen. Er interessierte sich aber auch dafür, wie die Jugendlichen selbst, sich nach einem Bewusstwordensein der gesellschaftlichen Rolle, der persönlichen Zukunftsperspektiven und des individuellen Gewordenseins, ihrerseits mit den gesellschaftlichen Erwartungen, Zumutungen und Spielräumen auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang spricht Erikson von der Jugendphase als psychosoziales Moratorium: „Unter einem psychosozialen Moratorium verstehen wir also einen Aufschub erwachsener Verpflichtungen oder Bindungen und doch handelt es sich nicht nur um einen Aufschub. Es ist eine Periode, die durch selektives Gewährenlassen seitens der Gesellschaft und durch provokative Verspieltheit seitens der Jugend gekennzeichnet ist“ (Erikson 1981, S. 161 In: Göppel 2005, S. 21).
Der Sinn dieses psychosozialen Moratoriums liegt nach Erikson darin, dass den Jugendlichen ein Raum bereitgestellt wird, in dem sich intensiv mit jener Grundthematik, die er unter „Identität vs. Identitätsdiffusion“ charakterisiert hat, auseinander gesetzt werden kann. Hierbei sollen Antworten auf Fragen wie, Wer bin ich? Wie will ich sein? Was ist mir wichtig? gefunden werden. Die Beschäftigung mit solchen existenziellen Fragen setzt voraus, dass der Heranwachsende es vollbringt, eine Distanz zu den Identifikationen seiner Kindheit zu bekommen, also zu den leitenden Orientierungen und Selbstverständlichkeiten, die aus dem familiären und vertrautem Umfeld stammen und die während der Kindheit absorbiert wurden. Die besondere Entwicklungsaufgabe liegt darin, zu hinterfragen, welche weiterhin Bestand haben sollen, was umgebildet werden kann und was verworfen werden sollte (vgl. Göppel 2005, S. 21).
Fassen wir nun noch einmal in kurzen Zügen die Grundaussagen Eriksons, insbesondere über die Phase Identität vs. Identitätsdiffusion, zusammen. Sein Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung befasst sich mit der Theorie, dass die Herausbildung der Identität, einer lebenslangen Entwicklung unterworfen ist. Die Identität durchläuft mehrere Krisenphasen, die entweder einen positiven oder einen negativen Ausgang haben können. Die jeweils positive Bewältigung ermöglicht die Auseinandersetzung mit der nächsten Stufe und deren Aufgaben. Somit ist die Bewältigung der einzelnen Entwicklungsaufgaben die Basis für die Sicherung und Stabilität der Identität. Insbesondere im Jugendalter ist die kognitive Entwicklung erstmalig so weit fortgeschritten, dass sich Jugendliche intellektuell und gefühlsmäßig als autonom verstehen und wahrnehmen können. Aus diesem Grund spitzt sich die Identitätskrise in der Jugendphase außerordentlich zu. Der Ausgang ist nach Erikson offen und kann sowohl in eine Identitätsdiffusion, als auch in eine sichere Identität führen (vgl. Hurrelmann 2010, S. 61).
Zudem werden die Ergebnisse der Verarbeitung der inneren (also körperlichen und psychischen) Realität und ihrer Abstimmung mit den Ergebnissen der Verarbeitung der äußeren Realität (also soziale und physische Umwelt) im Verlauf der Entwicklung zunehmend dem Bewusstsein verfügbar. Die Suche nach Orientierung und Sinnhaftigkeit ist für die Phase der Jugend charakteristisch. Das von der Erwachsenenwelt angebotene Weltbild und die ihm zugrunde liegenden Werte- und Normenverständnisse, aber auch die gesellschaftlichen Handlungsanforderungen werden von den Jugendlichen hinterfragt, wobei Defizite und Widersprüche erkannt und deutlich kritisiert werden. Sie reagieren durch Anpassung und Duldung, oder durch Verweigerung und Protest auf die Anforderungen. Die Suche nach dem Lebenssinn kann Ausgangspunkt für existenzielle Orientierungskrisen sein (vgl. Hurrelmann 2010, S. 30f.).
4.2.2 Theorie der kognitiven Entwicklung nach Jean Piaget
Die körperlichen Reifungs- und Veränderungsprozesse, die mit dem Einsetzen der Pubertät beginnen, sind für jedermann offensichtlich. Der kindliche Körper wird sozusagen zum Jugendlichenkörper transformiert. Parallel zu jenen körperlichen Umwälzungsprozessen findet auch ein geistiger Gestaltwandel statt, der auch als Transformationsprozess des menschlichen Denkvermögens beschrieben werden kann. Hierbei kommt es zu tiefgreifenden Wandlungen jener kognitiven Strukturen, mit denen die Umwelt erfasst, mit denen Bewertungen vorgenommen und mit denen diese begründet werden. So entspricht es beispielsweise allgemeinen pädagogischen Beobachtungen, dass etwa 12-14-Jährige mathematische Probleme begreifen können, die für etwa 8-10-Jährige noch kaum nachvollziehbar erscheinen, sie sind als ferner zu abstrakteren Gedankengängen in der Lage. Zu weiteren allgemein pädagogischen Erfahrungen zählt weiterhin auch, dass die SchülerInnen kritischer werden, insbesondere gegenüber der Institution Schule, gegenüber den Unterrichtsinhalten, der LehrerInnen und deren Lehrmethoden. Vieles von dem, was sie in ihrem bisherigen (schulischen) Leben relativ kritiklos und selbstverständlich hingenommen haben, erscheint ihnen nun höchst fragwürdig. Dieses Hinterfragen gegebener Umstände kann als Ausdruck eines kognitiven Strukturwandels gedeutet werden: „Die Dinge werden nicht mehr einfach so hingenommen wie sie sind, sondern es taucht das Bewusstsein auf, dass sie eigentlich auch ganz anders sein könnten, sollten, müssten. Die vorgefundene Realität ist nicht mehr quasi »gottgegeben«, sondern sie stellt nur mehr eine mögliche Option dessen dar, wie die Dinge prinzipiell sein könnten, d.h. sie wird »kontingent« und damit in viel höherem Maß begründungs- und legitimationsbedürftig“ (Göppel 2005, S. 32).
Worin besteht nun dieser kognitive Strukturwandel des Menschen? Es ist weitestgehend das Fachgebiet der kognitiven Entwicklungspsychologie, hier die Strukturlogik und die Abfolge entsprechender Veränderungsprozesse zu beschreiben und herauszuarbeiten. „Urvater“ dieser Art der differenzierten Untersuchung des allmählichen Aufbaus und der Transformationen der kognitiven Strukturen im Laufe der menschlichen Entwicklung ist Jean Piaget. Seine Aufmerksamkeit richtete er zwar vornehmlich den kindlichen Entwicklungsprozessen in der ersten Lebensdekade, jedoch wandte er auch große Mühen in der Beschreibung jenes letzten Umbauprozesses der kognitiven Strukturen auf, der zu der Qualität der Denkleistungen führt, die grundsätzlich auch die Denktätigkeit des Erwachsenen kennzeichnet. Wenn sich der Denkstil, die Art der kognitiven Verarbeitung von Problemstellungen im Laufe der menschlichen Entwicklung verändert, wenn das Reflexionsvermögen komplexer und abstrakter wird und wenn die Betrachtung der Umwelt und Gegebenheiten differenzierter und mehrperspektivischer wird, so hat dies Einfluss auf viele Lebensbereiche und beeinflusst die Vorstellungen und Urteile, die in diesen Bereichen getroffen werden (vgl. Göppel 2005, S. 32ff.).
Er entwickelte Fragestellungen, die essentiell für sein Stufenmodell der kognitiven Entwicklung waren: Gibt es Obergrenzen der Leistungsfähigkeit von Kindern in bestimmtem Alter, Obergrenzen, die von einer altersspezifischen kognitiven Struktur vorgegeben sind? Piaget kam zu der Annahme, dass die alterstypischen Fehler, die Kinder begehen, Ausdruck von einer besonderen Struktur des Denkens einer bestimmten Altersphase sind. Die Idee von Piaget beinhaltete, einerseits die Strukturen des gereiften Erwachsenendenkens zu beschreiben und andererseits die Entwicklung inhaltlich in mehreren Stufen bzw. Phasen als auf diese Endform zustrebend zu konzipieren (vgl. Fend 2000, S. 121). Jede dieser Phasen umfasst die Bildung einer spezifischen Erkenntnisstruktur, welche wieder Voraussetzung für die nächste Stufe ist. Die Errungenschaften früherer Phasen/Stufen sind integrale Bestandteile der Intelligenzstruktur höherer Stufen und werden von diesen nicht einfach chronologisch abgelöst. Das Alter beim Erreichen einer Phase kann innerhalb bestimmter Grenzen in Abhängigkeit von Einflüssen wie Motivation, Förderung oder dem kulturellem Umfeld variieren (vgl. Resch 1996, S. 83).
Im folgendem sollen die vier Stufen der kognitiven Entwicklung nach Piaget kurz erläutert werden, wobei das Hauptaugenmerk auf die letzte Stufe gerichtet wird:
(1) Die sensomotorische Stufe erstreckt sich von der Geburt bis zum 18. Lebensmonat. Es ist die Phase vor dem Spracherwerb, in der das Kind einfache generalisierte Reaktionen oder Abfolgen von Aktionen gegenüber Personen oder Objekten wahrnimmt und lernt. Beispielsweise dienen beliebige Gegenstände einfachen Aktionen (schütteln oder werfen). Die Entdeckung von Zusammenhängen zwischen Wahrnehmung eines Gegenstandes und dem, was mit ihm angestellt werden kann steht im Mittelpunkt.
(2) Die nächste, namentlich, präoperationale Entwicklungsstufe prägt das Denken zwischen dem 2. und 7. Lebensjahr. Das Kind erwirbt nun die Fähigkeit der Sprache und kann damit Bedeutungen von Objekten manipulieren. Dennoch überwiegt der sinnliche Eindruck, d.h. etwas, was beispielsweise mehr Masse einnimmt und größer erscheint, ist auch größer. Hier sind die Experimente zur Konservierung zu nennen. Konservierung meint die Beibehaltung eines Merkmals oder einer Eigenschaft, auch wenn sich das äußere Erscheinungsbild ändert. So haben Experimente gezeigt, dass wenn Wasser aus einem niedrigen und breiten Glas in ein hohes schmales Glas gegossen wird, verleitet das höhere Glas zum Urteil, dass dort mehr Wasser enthalten sei.
(3) In der Primarschulzeit befindet sich das Kind auf der Stufe der konkreten Operationen. Zwischen dem 7. und 11. Lebensjahr meistert das Kind schon viele logische Operationen und kann Konservierungsaufgaben lösen. Dennoch hat es nach wie vor Schwierigkeiten, abstrakt zu denken, hypothetische Problemstellungen zu lösen und sich im Bereich der gedanklichen Möglichkeiten zu bewegen.
(4) Die letzte Stufe in Piaget´s Modell der kognitiven Entwicklung, nämlich die des formal-kognitiven Denkens, ist durch die Entwicklung des abstrakten und hypothetischen Denkens gekennzeichnet. Sie setzt ab dem 11. Lebensjahr ein und erstreckt sich über den gesamten weiteren Lebensabschnitt. Dennoch wird sie nicht von allen heranwachsenden Kindern und Jugendlichen zum selben Zeitpunkt und in derselben Reife erreicht (vgl. Fend 2000, S. 121f.). Erst auf dieser Stufe ist ein Umgang mit Hypothesen und das Nachdenken über Aussagen, die von konkreten aktuellen Bedingungen gelöst sind, möglich. Demzufolge entsteht die Fähigkeit zu abstraktem Denken, zum Vergleich von Hypothesen oder zum Denken in Konzepten. Erst darauf aufbauend entsteht die kognitive Fähigkeit zur Selbstreflexion, Introspektion oder Selbstevaluation auf dem Niveau eines Erwachsenen (vgl. Resch 1996, S. 85f.).
Was die Theorie von Piaget nun hinsichtlich des Jugendalters so wichtig macht, ist die Tatsache, dass Piaget am Ende der Kindheit, beim Übertritt in die Jugendphase, eine wichtige Entwicklungsphase hinsichtlich einer qualitativen Umgestaltung des Denkens ausmacht. Nach Piaget „[besteht] das Neue darin, daß (sic.) sich die konkrete Logik vom sichtbaren Objekt selber lösen kann und auf verbaler bzw. symbolischer Ebene ohne andere Unterstützung funktioniert“ (Piaget 1969, S. 23 In: Fend 2000, S. 123). Insgesamt werden somit Jugendliche unabhängig von der konkreten Bindung an in der Wahrnehmung vorhandene Stimuli, also von der unmittelbaren Anwesenheit von Sinnesreizen. Somit können sie in die Zukunft denken und potenzielle Wirklichkeiten konstruieren. Die Auswirkungen „jugendlichen Denkens“ bieten nach Piaget neue Möglichkeiten, Beziehungen zur Welt und zu sich selber herzustellen. Der Jugendliche konstruiert weder die Welt mehr wie das Kleinkind nach den inneren Bedürfnissen und Phantasien, noch passt er sich ihr mehr in Bezug auf die konkreten Umweltgegebenheiten kritik- und distanzlos an, wie beispielsweise das Kind es in der Primarschulzeit tut. Der Jugendliche entwickelt viel eher ein distanziertes und generalisiertes Verhältnis zur Umwelt (vgl. Fend 2000, S. 124f.). Mit der einhergehenden Reflexion ist ein Wandel des Bewusstseins verbunden. Der Jugendliche sieht nicht nur die eigene Person und die Umwelt gegenübergestellt, sondern versteht sich selber als ein Part in der Umwelt (vgl. Dreher/Dreher 1985, S. 60). Die gesamte kognitive Entwicklung ist also durch eine Befreiung von eigenen engen Perspektiven und einfachen Erklärungsmustern charakterisiert. Das Denken wird immer eigenständiger und gleichzeitig umfassender. Dies ermöglicht dem Jugendlichen, auch solches Denken zu verstehen, dass er beispielsweise ablehnt (vgl. Flammer/ Alsaker 2002, S. 94).
4.2.3 Kognitive Entwicklungstheorie des moralischen Urteils nach Lawrence Kohlberg
Auf Grundlage der Analyse der Einschätzungen und Begründungsfiguren, die Personen unterschiedlichen Alters bei der Diskussion von moralischen Dilemma-Geschichten abgaben, versuchte Lawrence Kohlberg eine Entwicklungslinie mit aufeinanderfolgenden Stufen zu entwerfen, auf denen moralische Problemsituationen in je typischer Weise beurteilt werden.
Als Dilemma-Geschichten werden in diesem Zusammenhang hypothetische Problemfälle verstanden, bei denen die handelnden Personen in Konflikte zwischen unterschiedlichen Handlungsnormen geraten (vgl. Göppel 2005, S. 36).
Bekanntgeworden ist das „Heinz-Dilemma“, mit dem Lawrence Kohlberg die Stufen des moralischen Denkens zu erfassen versuchte (vgl. Keller 2007, S. 20.). Im Wortlaut wurde das „Heinz-Dilemma“ folgendermaßen den Probanden vorgelegt: „In einem fernen Land lag eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 200 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 2000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 1000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, daß (sic.) seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: »Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen.« - Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll“ (Kohlberg 2000, S. 332). Auf dieser Geschichte folgten die Fragen an die Versuchspersonen (vgl. hierzu Kohlberg 2000, S. 332f.).
In Lawrence Kohlbergs Theorie der moralischen Entwicklung finden sich sechs moralische Stufen wieder, die drei Hauptebenen des moralischen Urteils zugeteilt sind. Die einzelnen moralischen Stufen können besser verstanden werden, wenn zuvor die Inhalte der Hauptebenen geklärt sind:
(1) Die präkonventionelle Ebene ist die moralische Denkebene der meisten Kinder bis zum neunten Lebensjahr.
(2) Die konventionelle Ebene ist den aller meisten Jugendlichen und Erwachsenen zuzurechnen,
(3) und die postkonventionelle Ebene wird bloß von einer kleinen Anzahl der Erwachsenen erreicht (vgl. Kohlberg 1976/2001, S. 37).
Der Begriff „konventionell“ bedeutet hier, dass man den Regeln, Erwartungen und Konventionen der Gesellschaft entspricht, weil sie eben die Regeln, Werte und Normen der Gesellschaft sind. Der Mensch auf der präkonventionellen Ebene ist noch nicht so weit, dass er die gesellschaftlichen Regeln verstehen und unterstützen könnte. Ein Individuum auf postkonventionellem Niveau versteht die Regeln der Gesellschaft und akzeptiert sie grundsätzlich. Dieses grundsätzliche Einverständnis leitet sich daraus ab, dass die allgemeinen moralischen Prinzipien, die den gesellschaftlichen Werten und Normen zugrunde liegen, formuliert und anerkannt werden. Vereinzelt kommen diese Prinzipien mit den Regeln der Gesellschaft in Konflikt, wobei sich dann das postkonventionelle Individuum an das Prinzip und nicht an die Konvention hält (bspw. sei hier auf das Heinz-Dilemma verwiesen, in dem Heinz das Krebsmedikament stiehlt, obwohl es verboten und geächtet wird, fremdes Eigentum zu stehlen). Im Grunde kann die Bedeutung der drei Hauptebenen plausibel gemacht werden, indem man sie als drei unterschiedliche Typen von Beziehungen zwischen dem Selbst und den gesellschaftlichen Werten, Normen und Erwartungen begreift (vgl. Kohlberg 1976/2001, S. 40).
Innerhalb jeder der drei Hauptebenen lassen sich zwei moralische Stufen finden, wobei die zweite Stufe eine jeweils fortgeschrittenere Variante der allgemeinen Perspektive der Hauptebene darstellt. Im Folgenden sollen sie sechs Stufen kurz erläutert werden (vgl. Kohlberg 1976/2001, S. 38f.):
(1) Orientierung an Gehorsam und Strafe - Auf der ersten Stufe orientiert sich das Kind nicht an moralischen Ansprüchen, vielmehr werden vorgesetzte Regeln eingehalten, deren Übertretung mit Sanktionen bedroht ist. Hierbei berücksichtigt das Kind nicht die Interessen von weiteren Personen. Es erkennt nicht, dass sie von seinen eigenen Interessen verschieden sein können und setzt diese dementsprechend nicht in eine gegenseitige Beziehung.
(2) Instrumentelle Orientierung – Das Kind erkennt eine Gegenseitigkeit menschlicher Interessen und Verhalten. Das Handeln basiert auf der eigenen Bedürfnisbefriedigung, wobei anerkannt wird, dass auch andere Menschen bestimmte Interessen haben. Darüber hinaus wird als rechtens betrachtet, was fair, was ein gleichwertiger Austausch oder Übereinkommen ist.
(3) Orientierung an wechselseitigen Erwartungen – Diese Stufe ist geprägt, den Erwartungen zu entsprechen, die (nahe stehende) Menschen an das Individuum als Träger einer spezifischen Rolle (Bruder/Tochter, Partner/Partnerin etc.) richten. Gut zu erscheinen ist genauso wichtig, wie ehrenwerte Absichten zu besitzen oder Beziehungen zu pflegen. Insgesamt ist sich das Individuum über gemeinsame Übereinkünfte oder Erwartungen bewusst, die den Vorrang vor individuellen Interessen erhalten.
(4) Orientierung am sozialen System, Gewissen, Gesetz und Ordnung – Auf dieser Moralstufe wird dem Individuum die Bedeutung moralischer Normen für das Fortbestehen der Gesellschaft bewusst. Darüber hinaus werden auch Erwartungen erkannt, die nicht von Bezugspersonen, insbesondere allgemeine gesellschaftliche Regeln oder Regeln einer Gruppe oder Institution, stammen.
(5) Orientierung am Sozialvertrag – Dem Individuum wird bewusst, dass unter den Menschen es eine Vielzahl von Werten und Meinungen gibt, die gruppenspezifisch geordnet sind. Die Anerkennung dieser verschiedenen Interessen erfolgt im Interesse der Gerechtigkeit und des sozialen Kontraktes.
(6) Orientierung an universalen ethischen Prinzipien – Die Begründung des moralischen Agierens orientiert sich auf dieser Stufe am Prinzip der zwischenmenschlichen Achtung. Das richtige Handeln wird mit selbstgewählten ethischen Prinzipien in Einklang gebracht, wobei es sich nicht mehr um spezielle gesellschaftliche Werte und Normen, sondern um abstrakte Prinzipien handelt (vgl. Kohlberg 1976/2001, S. 38f.).
Während sich Kinder also auf der Stufe 1 bei der Einschätzung der Legalität bestimmter Handlungen insbesondere am Gehorsamkeitsgebot und an der Strafandrohung orientieren, ist für Kinder auf der zweiten Stufe bei der Beurteilung von kritischen Handlungssituationen eher ein instrumentell-naiver Hedonismus und das Prinzip der Fairness von Einfluss. Sie überlegen hierbei primär, auf welche Weise sie ihre eigenen Interessen unter Wahrung der Fairness gegenüber denjenigen Menschen, auf deren Fairness sie ihrerseits angewiesen sind, am besten realisieren können. Der jugendliche Mensch befindet sich nach Kohlberg hauptsächlich auf Stufe 3. Auf dieser Stufe orientieren sich die Jugendlichen bei ihren Handlungsvorschlägen am Prinzip der zwischenmenschlichen Konformität, d.h., überlegen ist der Wunsch nach sozialer Anerkennung (vgl. Göppel 2005, S. 36). Auf der 4. Stufe ist die Bezugsgruppe deutlich erweitert und geht über die Nahbeziehungen hinaus. Auf dieser Stufe ist für die Beurteilung der „dilemmatischen Heinz-Konfliktsituation“ die Frage maßgeblich, welches Handeln mit den gesellschaftlichen Grundwerten und Strukturprinzipien vereinbar sind, welche Regeln, welche Verpflichtungen etc. zu respektieren sind, damit das Gesamte funktioniert. Dabei werden die Konfliktfälle sachlicher bzw. neutraler, d.h. unabhängiger von individuellen Sympathien beurteilt (vgl. Göppel 2005, S. 36).
Wie kann nun der Entwicklungsfortschritt beschrieben werden, der sich innerhalb von Kohlbergs Stufen, speziell in Bezug auf die Jugendphase vollzieht. Nach Kohlberg ist es die zunehmende Erweiterung der sozialen Perspektive, die bei der moralischen Urteilsbildung Berücksichtigung findet. Während nämlich der Bezugspunkt der moralischen Urteilsbildung auf Stufe 3 wesentlich die Gruppe bzw. die sozialen Beziehungen sind, ist es auf der vierten Stufe eher die Gesellschaft, das übergreifende soziale System, dessen Bestand und Ordnung durch die Lösungsstrategien nicht angetastet werden darf (vgl. Göppel 2005, S. 36f.).
Es kann also festgehalten werden, dass sich die Ausrichtung des Denkens von der Orientierung an Gehorsam und Strafe auf der untersten Stufe, über die Orientierung am gegenseitigen Miteinander und gesellschaftlichen Normen, bis zur Orientierung an universellen ethischen Prinzipien wandelt. Auf jeder Stufe muss ein Gleichgewicht von Wahrnehmung, Denken sowie Reflexion auf immer differenzierterem Niveau erreicht werden (vgl. Hurrelmann 2010, S. 60).
4.2.4 Das menschliche Gehirn in der Lebensphase Jugend
Wie bereits mehrfach erfahren, ist die Lebensphase Jugend eine Zeit enormer hormonaler, körperlicher und kognitiver Veränderungen. Gleichzeitig ist sie ein Abschnitt eines regelrechten Identitätswandels. Innerhalb der Pubertät scheint sich die gesamte Persönlichkeit eines Menschen zu wandeln. Jugendliche scheinen sich und den Menschen um sie herum, wie auch ihrer Gefühle und Meinungen bewusster zu werden. Häufig sind die Sorgen um das eigene Aussehen und die Bedenken, was andere (gleichaltrige) Menschen von einem halten mögen, ein ständiger Alltagsbegleiter (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 160f.). Auch das menschliche Gehirn ist ein Ort von Veränderungsprozessen. Dennoch ist die Erforschung des menschlichen Gehirns ein relativ neuer Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Dementsprechend gibt es erstaunlich wenig wissenschaftliches Material zur kognitiven und neuronalen Entwicklung, besonders im adoleszenten Lebensabschnitt. Dennoch kann gesichert behauptet werden, dass neuronale Veränderungen in der Jugendphase in Verbindung mit Veränderungen der Gehirnpartie des Frontalkortex stehen. Forschungen zeigen, dass viele Bereiche des Gehirns, und insbesondere der Frontalkortex, sich noch lange nach der Kindheit weiterentwickeln (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 162).
Insbesondere sind zwei Veränderungen, durch die sich das nachpubertäre Gehirn vom vorpubertären Gehirn unterscheidet, besonders wichtig und sollten kurz genannt werden. Bei Untersuchungen stellte man fest, dass zwar das Volumen des Gehirngewebes vor und nach der Pubertät gleich geblieben ist, die „weiße Substanz“ im Frontalkortex nach der Pubertät jedoch zugenommen hat. Was bedeutet dies nun? Die Neurone bauen im Laufe ihrer Entwicklung eine „Myelinschicht“ auf, die ihr Axon (lange Faser an jeder Gehirnzelle) umhüllt. Das Myelin wirkt nun isolierend und erhöht damit die Geschwindigkeit, mit der elektrische Impulse von Nervenzelle zu Nervenzelle übertragen werden. Dieser Befund deutet darauf hin, dass die Übertragungsgeschwindigkeit zwischen den Neuronen im Frontalkortex nach der Pubertät zunehmen könnte (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 163).
Die zweite Veränderung zwischen dem kindlichen und dem jugendlichen Gehirn ist die abgenommene Synapsendichte im Frontalkortex nach der Pubertät. Gleich nach der Geburt setzt eine erste Welle der intensiven Synapsenbildung (Synaptogenese) ein, die ca. bis zum Ende des ersten Lebensjahres anhält. Zu diesem Zeitpunkt erreicht die Synapsendichte in vielen Gehirnregionen ihren Höhepunkt. Darauf folgt dann das „Pruning“ (Ausjäten) der nicht genutzten Synapsen, und die Festigung der genutzten Synapsen. Im Frontalkortex jedoch geht die gesamte Synapsenbildung während der Kindheit weiter. Wissenschaftler vermuten, dass das Synapsen-Pruning im Frontalkortex erst nach der Pubertät einsetzt. Diese erst nach der Pubertät beginnende „Synapsen-Auslese“ geht die gesamte Jugendphase weiter und bewirkt, dass die Synapsendichte im Frontalkortex allmählich abnimmt. Dies ist die Voraussetzung für die Feinanpassung der funktionalen Netzwerke des Hirngewebes und der Wahrnehmungsprozesse. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Feinanpassung der kognitiven Prozesse des Frontalkortex erst in der Adoleszenz greift (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 163f.).
Unter der Überschrift „Neurobiologisches Dilemma der Pubertät“ beschreibt Sosic-Vasic den ungleichzeitigen Reifeprozess der verschiedenen Gehirnregionen. Danach sitzen in einem sexuell reifen Körper relativ reife Hirnareale für die emotionale Verarbeitung und relativ unreife Hirnsysteme zur kognitiven und emotionalen Selbstregulation. Das Ergebnis ist ein vermindert selbstregulatorisch befähigter junger Mensch bei gleichzeitig erhöhter emotionaler Reaktion und Risikobereitschaft.
4.2.4.1 Exekutivfunktionen
Der Frontalkortex ist darüber hinaus aber noch bezüglich eines weiteren Umstandes von enormer Wichtigkeit. Der Frontalkortex ist nämlich der Bereich, der für die Exekutivfunktionen zuständig ist. Exekutive Funktionen sind Komplexe innere Prozesse zur Verhaltenssteuerung, beispielsweise etwa die Fähigkeit, unpassendes Verhalten zu unterdrücken, Dinge zu planen, sich zwischen Handlungsalternativen zu entscheiden, mehrere Vorgänge gleichzeitig auszuführen oder Empathiefähigkeit zu entwickeln. (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 162).
Angesichts der, auch in der Jugendphase entwicklungsbedingt weiter voranschreitenden, Veränderungen im Frontalkortex ist zu erwarten, dass sich auch kognitive Fähigkeiten, in dieser Zeit verändern. Insgesamt wird mit dem Ausdruck »Exekutivfunktion« das Vermögen bezeichnet, die eigenen Gedanken und das eigene Verhalten zu koordinieren und zu kontrollieren. Dazu gehören insbesondere die Fähigkeiten, die eigene Aufmerksamkeit gezielt auf etwas zu richten, Aufgaben zu planen, unangebrachtes Verhalten zu unterdrücken etc. Darüber hinaus steuern die Exekutivfunktionen das Selbstregulationsverhalten, welches wiederum als ein wichtiger Indikator für das Erwachsenwerden bezeichnet werden kann. Diese Exekutivfunktionen sind im Grunde die typischen Aufgaben eines Managers (vgl. englisch »executive«). Wie bereits erwähnt, finden innerhalb der Pubertät fundamentale Veränderungen im Frontalkortex statt. Darauf aufbauend könnte man annehmen, dass sich auch die Exekutivfunktionen in dieser Phase verändern, wenn gar verbessern. Mit anderen Worten: „[…] selektive Aufmerksamkeit, Entscheidungskompetenz und die Kompetenz zur Unterdrückung von Reaktionen sowie die Fähigkeit, mehrere Aufgaben auf einmal auszuführen, sind Fähigkeiten, die sich in der Adoleszenz verbessern könnten. Stellt man sich typische Zehnjährige vor und vergleicht sie mit typischen 15-Jährigen, scheint das durchaus nicht abwegig. Kinder scheinen es mit zunehmenden Alter wirklich immer besser zu schaffen, unangebrachtes Verhalten zu unterdrücken, zwei Sachen auf einmal zu tun und etwas zu planen“ (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 170). An dieser Stelle soll aber auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass es nur eine kleine Anzahl an wissenschaftlichen Studien gibt, die sich systematisch mit den Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten in der Jugendphase beschäftigt haben (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 170).
Dennoch befassten sich Walter Mischel und seine KollegInnen von der Columbia Universität in New York mit der Problematik und führten eine Studie durch, die aufzeigt, wie wichtig es ist, beispielsweise eigene Begehrungen oder Bedürfnisse aufzuschieben. Sie testeten diese Fähigkeiten in einem Experiment mit vierjährigen Mädchen und Jungen. Die Kinder wurden jeweils einzeln an einem Tisch gesetzt, auf dem ein Marshmallow (in anderen Versuchsreihen wurde die Art der Süßigkeit variiert, aber auf jeden Fall eine für Kinder verlockende Süßigkeit) lag. Als nächstes wurde dem Kind gesagt, dass die Versuchsleiterin noch etwas holen müsse und daher es fünf Minuten allein lasse, und solange es alleine im Raum sei, dürfe es die Süßigkeit nicht essen. Erst wenn die Versuchsleiterin zurück käme und das Marshmallow dann noch immer da sei, dürfe das Kind es aufessen (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 251f.).
Unter anderen führte diese Studie zu zwei wichtigen Befunden. Zunächst wurde festgestellt, dass die Kinder länger warten konnten, wenn es ihnen gelang, sich von dem Marshmallow abzulenken oder wenn man sie aufgefordert hatte, statt über den Geschmack der Süßigkeit lieber über seine abstrakten Eigenschaften, wie Größe und Form nachzudenken. Insgesamt erschien die Aufgabe der Begehrensaufschiebung als äußerst schwierig. Die große Mehrheit der Kinder erlag der Versuchung und aß die Süßigkeit in der Abwesenheit der Versuchsleiterin auf. Diejenigen, die sich beherrschen konnten, behalfen sich damit, dass sie sich auf ihre Hände setzten oder sich wegdrehten. In diesem jungen Alter ist das Gehirn noch relativ unausgereift, und der Frontalkortex sowie die Exekutivfunktionen, die uns eben helfen, unsere Impulse zu steuern und Zurückhaltung gegenüber eigenen Begierden zu üben, entwickeln sich in späteren Jahren, insbesondere in der Phase der Adoleszenz, und sind erst im Erwachsenenalter vollkommen ausgereift (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 252f.).
Darüber hinaus zeigten die Studien den Befund, der als umstritten gilt, dass die vierjährigen Probanden, die bei dem Experiment eine größere Selbstbeherrschung aufweisen konnten, später in der Jugendphase besser in der Schule waren als ihre Altersgenossen, die weniger Selbstbeherrschung an den Tag legten. Denn diejenigen Kinder, die eine größere Selbstdisziplin bei dem Experiment zeigten, schnitten bei späteren Ausdauer- und Konzentrationstests, sowie bei kognitiven Tests und Logiktests besser ab. Außerdem schienen sie in der Adoleszenz besser zur Stressbewältigung und zum Umgang mit spezifischen sozialen Situationen in der Lage zu sein als Kinder, die der Süßigkeiten-Versuchung weniger souverän widerstehen konnten. Diese Ergebnisse deuten insgesamt darauf hin, dass die frühe Fähigkeit, die eigenen Impulse zu steuern, im späteren (schulischen) Lebensverlauf und im Bezug auf soziale Kompetenzen eine große Rolle spielt (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 253).
Diese Ergebnisse implizieren aber auch, dass auf der anderen Seite Kinder mit vergleichsweise niedrigen exekutiven Funktionen ein höheres Risiko eines Schulabbruchs oder ein höheres Risiko hinsichtlich emotionaler Probleme und Verhaltensauffälligkeiten besitzen. Insgesamt kann die Selbstregulationsfähigkeit die Basis für gelingendes Lernen sein.
Es bleibt festzuhalten, dass sich das Gehirn in einer ständigen Entwicklung befindet. Besonders in der Zeit der Adoleszenz deutet eine große Anzahl an Ergebnissen darauf hin, dass sich bestimmte Partien des menschlichen Gehirns komplett reorganisieren. Diese Reorganisierung scheint eine Verbesserung der Kontrolle und der Planung von komplexen Handlungen zur Folge zu haben, beides immens wichtige Eigenschaften, die für das Arbeitsleben, wie für das soziale Leben wichtig sind. Das Alter von 10 bis 15 Jahren sollte als eine Zeit begriffen werden, die überaus wichtige Lernchancen bietet. In dieser Lebensspanne findet eine besonders dramatische Reorganisierung des Gehirns statt. Mit einher geht die Herausbildung und Verbesserung exekutiver Funktionen, also die Selbstregulationsfähigkeit, die für ein selbstständiges Leben und der Bewältigung der Entwicklungsherausforderung besonders wichtig sind (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 174).
Warum ist es nun von Bedeutung, etwas über die Veränderungsprozesse des Gehirns während der Jugendphase zu erfahren? Neben einer Reihe von medizinischen Gründen, können diese Erkenntnisse Aufschluss über das Lehren und Lernen in der Schule geben. Denn, Lernen innerhalb der Lebensphase Jugend ist entscheidend für eine erfolgreiche und positive Lebens- und Berufsbiografie. Dennoch sind viele junge Menschen zum schulischen Lernen nicht motiviert. Erkenntnisse aus der adoleszenten Gehirnforschung könnten Wege mit ebnen, das Lernen in dieser Lebensphase so zu gestalten, dass es mit mehr positiven Verstärkungen einhergeht (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 167). Das Gehirn ist im Lebensabschnitt Jugend immer noch in der Entwicklung begriffen, es ist also anpassungsfähig und muss geformt und geprägt werden. Bildungsziele sollten Aspekte der Stärkung der internen Kontrolle, das Lernen im eigenen Tempo, die kritische Auseinandersetzung mit vermitteltem Wissen und metakognitive Kompetenzen umfassen (vgl. Blakemore/Frith 2006, S. 174).
4.2.5 Rückblick
Wie können die Erkenntnisse aus der soziologischen und psychologischen Forschung kurz und prägnant zusammengefasst werden? Die Jugend ist als eigenständige Lebensphase anzusehen, weil durch die Bewältigung elementarer Entwicklungsaufgaben ein Prozess der selbstständigen und bewussten Individuation einsetzt. Mit der Individuation, d.h. der Entwicklung einer einmaligen und individuellen Persönlichkeitsstruktur wird das Individuum in die Lage versetzt, sich durch selbstständiges und autonomes Verhalten mit seinem Körper, seiner Psyche und mit seinem sozialen und physischen Milieu auseinander zu setzen (vgl. Hurrelmann 2010, S. 30).
Insgesamt kann gesagt werden, dass die Lebensphase Jugend sich in den vergangenen Dekaden enorm verändert hat. Aufgrund der zunehmenden Gesellschaftsalterung werden Jugendliche zu einer immer knapperen Bevölkerungspopulation. Einerseits werden sie als zukünftige ArbeitnehmerInnen, als ehrenamtlich bzw. freiwillig Engagierte und als potenzielle FamiliengründerInnen hofiert. Andererseits sehen sie sich mit wachsenden Anforderungen an ihre berufliche Qualifikation, mit Mobilitätsdruck, Zeitstress und insgesamt mit unsicheren Zukunftsperspektiven konfrontiert. Allgemein herrscht Konsens, dass die Lebensphase Jugend mit dem Einsetzen der Pubertät beginnt. Mit diesem tiefgreifenden Wandlungsprozess gehen biologisch-körperliche, kognitiv-emotionale, aber auch soziale und gesellschaftliche Faktoren einher. Das interdisziplinäre Konzept der Entwicklungsaufgaben ist in diesem Lebensabschnitt von elementarer Bedeutung und beschreibt die für die verschiedenen Altersphasen wichtigen gesellschaftlichen Erwartungen und Aufgaben. Unter Rückbezug auf das Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst gilt der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter als erfolgreich gemeistert, wenn die folgenden Schritte gemeistert wurden: „Die jungen Menschen haben ausreichend intellektuelle und soziale Kompetenzen sowie Bildungsqualifikationen erworben, um sich beruflich etablieren zu können und ökonomisch unabhängig werden. Die Ablösung von den Eltern ist erfolgt, die veränderte körperliche Erscheinung wurde akzeptiert, und es ist eine feste Bindung zu einem Partner oder einer Partnerin aufgebaut sowie eine Familie gegründet worden (beziehungsweise es besteht die Möglichkeit dazu). Es wurden enge Freundschaften und Kontakte zu Gleichaltrigen geknüpft und die Fertigkeiten entwickelt, bedürfnisorientiert und produktiv Freizeitangebote und Medien zu nutzen und einen eigenen Lebensstil zu praktizieren. Schließlich haben die Jugendlichen ein individuelles Werte- und Normensystem, sozial verantwortliches handeln und die Fähigkeit zur politischen Partizipation entwickelt“ (Hurrelmann/Quenzel 2012 In: Gille 2012, S. 4)
Das Konzept der Entwicklungsaufgaben steht in seiner Reinform jedoch in der Kritik, da die Erwartungen und Aufgaben, mit denen der Jugendliche sich konfrontiert sieht, einen normativen Charakter haben und bürgerliche Normalitätsvorstellungen wider spiegeln. Aufgrund zunehmender Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse sind Normalbiografien seltener geworden. Dies bedeutet im Besonderen für die Jugendphase, dass eine feste zeitliche Abfolge der verschiedenen Statusetappen Ausbildungsabschluss/ Berufseintritt/ Familiengründung nicht mehr in einer festen Reihenfolge und auch nicht mehr innerhalb einer eng umgrenzten Zeitspanne erfolgt. Zudem kann an dem Konzept ausgesetzt werden, dass bestimmte Jugendliche Rahmenbedingungen gegenüberstehen, die es für sie schwierig oder gar unmöglich machen, sich in diesem Sinne zu entwickeln. Hierunter zählt insbesondere das Aufwachsen in bildungsfernen Familien, in schwierigen Familienkonstellationen oder in Regionen mit schwacher Wirtschaftskapazität und hoher Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus werden, nach diesem Konzept, Jugendliche eher als passiv Ausführende wahrgenommen. Junge Menschen können ihre Entwicklung aber nur dann erfolgreich bewältigen, wenn sie mit den gesellschaftlichen Erwartungen, sich individuell identifizieren und sie zu ihrem eigenen Ziel machen. Daher sieht die Forschung jugendliche Entwicklung heutzutage eher als einen aktiven Konstruktionsprozess, indem Jugendliche sich nicht nur mit den an sie herangetragenen Aufgaben auseinandersetzen, sondern auch eigene Ziele verfolgen. Voraussetzung für eine relativ positive Entwicklung in der Lebensphase Jugend ist besonders die Gelegenheit, an den Lebenswelten der Gesellschaft und Gleichaltriger teilzuhaben (vgl. Gille 2012, S. 4ff.).
Hinsichtlich der Lebensbedingungen junger Menschen gibt es in modernen Gesellschaften zunehmend problematische Entwicklungen, sei es die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und die hohe Jugendarbeitslosigkeit in vielen europäischen Gefilden. Für junge Menschen wird es zunehmend schwieriger, nach einer beruflichen Ausbildung ein attraktives Beschäftigungsverhältnis zu erlangen, welches unbefristet ist und eine gute ökonomische Absicherung bietet. Viel eher müssen sie sich mit gering entlohnten Praktika oder befristeten Arbeitsverträgen arrangieren. Ein weiterer Faktor ist die Forderung/Herausforderung der beruflichen Mobilität. All jene Aspekte erschweren langfristige Zukunftsplanungen hinsichtlich Familiengründung oder Wohnortniederlassung (vgl. Gille 2012, S. 7).
Darüber hinaus wird seit den 1980er Jahren der Strukturwandel der Jugendphase unter dem Gesichtspunkt der Individualisierung konferiert. Diesem Erklärungsansatz nach wird der Jugendliche zunehmend aus traditionellen Lebenswelten herausgelöst. Für den Jugendlichen hat dies zur Folge, dass sie zum Konstrukteur ihrer eigenen Biografie und Lebensführung werden. Neben dem Zuwachs an freien Gestaltungsmöglichkeiten kommt aber auch eine enorme Schwierigkeit einher. Wenn sie scheitern, sind sie selber dafür verantwortlich, welches den Druck auf die Jugendlichen gewaltig erhöht. Denn trotz der ansteigenden Individualisierung von Lebenschancen und der Vielzahl an Lebensstilen, gibt es mehr denn je Auswahlprozesse nach sozialer Schicht, Geschlecht und Migrationshintergrund. Dieser Trend zu Ausgrenzungsprozessen scheint sich in den letzten 20 Jahren weiter verfestigt zu haben (vgl. Gille 2012, S. 7).
Der sich ausweitende Übergang in den Erwachsenenstatus führt mit dem immer früheren Pubertätseintritt dazu, dass die Jugendphase sich immer weiter ausdehnt und bis zu 15 Jahre andauern kann. Der Anstieg des Bildungsniveaus und die damit einhergehende längere Bildungszeit führen dazu, dass der Eintritt in das Berufsleben und eine mögliche Familiengründung erst zur Mitte/Ende des dritten Lebensjahrzehnts erfolgen kann. Wiederum andere Aspekte des Erwachsenenseins übernehmen Jugendliche immer früher, etwa die eigenständige Gestaltung von Partnerschaften, Freizeitaktivitäten, Mediennutzung oder politisches und soziales Engagement. Weiterhin sieht sich der Jugendliche mit einer allmählichen Auflösung der festen Ordnung der vier Statusetappen Schule, Ausbildung, Eintritt ins Erwerbsleben und Familiengründung konfrontiert. Eine Konsequenz ist das gleichzeitige Agieren an verschiedenen Statusübergängen, was zu widersprüchlicher Selbst- und Fremdwahrnehmung führen kann. In mancher Hinsicht nehmen sie sich schon als erwachsen wahr, andererseits verbleiben sie hinsichtlich noch nicht bewältigten Entwicklungsetappen, beruflicher Etablierung, ökonomischer Unabhängigkeit oder Familiengründung aus gesellschaftlicher Perspektive noch im Status des Jugendalters (vgl. Gille 2012, S. 8).